Washington

„Amerikas Demokratie ist in Gefahr“: Politikwissenschaftler David Sirakov im Interview

Von Christian Kunst
David Sirakov
David Sirakov Foto: privat

Es gab Zeiten, da hatte Dr. David Sirakov nach den vielen Interviews zum damaligen US-Präsidenten Donald Trump fast seine Stimme verloren. Seit dem Amtsantritt von Joe Biden vor einem Jahr ist es auch für den Leiter der Atlantischen Akademie in Kaiserslautern, einer deutsch-amerikanischen Fortbildungseinrichtung, ruhiger geworden.

Lesezeit: 7 Minuten
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Biden hat Schluss gemacht mit Trumps Überlegungen, die US-Truppen aus Rheinland-Pfalz abzuziehen. In das deutsch-amerikanische Verhältnis kehrt wieder mehr Normalität zurück. Alles gut also? Im Gegenteil, sagt der Politikwissenschaftler im Interview mit unserer Zeitung. Nach einem Jahr Biden ist die amerikanische Demokratie bedrohter denn je zuvor – von rechts, warnt er.

Viele Wähler von Joe Biden haben mit ihm die Hoffnung verbunden, das Coronavirus und Donald Trump loszuwerden. Beides ist nicht eingetreten. Ist er gescheitert?

Es gibt noch andere wichtige Faktoren, die zu Bidens schlechten Umfragewerten geführt haben. Ob Trump 2024 wieder als Kandidat antritt oder sich öffentlich äußert, das hat Biden nicht in der Hand. Damit musste er auch rechnen. Immerhin hat Biden erreicht, dass Trump nicht mehr Präsident ist. Bidens Probleme bei der Bekämpfung der Pandemie offenbaren, wie machtlos ein US-Präsident ist. Seine Regierung ist zwar gut gestartet, der Impffortschritt war sehr gut. Aber dann bekam er es nicht nur mit einem mutierenden Virus zu tun, sondern auch mit dem Widerstand vor allem von republikanisch geführten Bundesstaaten.

Inwiefern?

Sie haben viele von Bidens Regierung eingeführte Maßnahmen konterkariert. Stichwort Maskenpflicht: Bundesstaaten wie Florida oder Texas setzen das nicht um oder erklären das Maskentragen zu etwas Freiwilligem. Hinzu kommt der mittlerweile erzkonservativ dominierte Supreme Court, der viele Entscheidungen der Biden-Regierung zumindest teilweise einkassiert hat. Es gibt also auch viele strukturelle Gründe dafür, dass Biden nicht das liefern kann, was man von ihm erwartet hat.

Kann Biden das Coronavirus in den USA also vielleicht gar nicht besiegen, weil die Spaltung in der US-Gesellschaft so tief ist?

Das Coronavirus ist zu einem zentralen Gegenstand der gesellschaftlichen und politischen Hyperpolarisierung in den USA geworden. Ob sich die tiefe Spaltung durch die Pandemie vertieft, lässt sich noch nicht beantworten. Das Virus macht diese Spaltung jedenfalls noch sichtbarer und zementiert sie. Maskentragen oder Impfen sind nun mehr ideologische und nicht nur gesundheitspolitische Themen.

Joe Biden ist angetreten, das Land zu einen. Offenbart die tiefe Spaltung in Corona-Fragen nicht, dass er als Versöhner gescheitert ist?

Er hat das Problem, dass sich besonders die gesellschaftliche Spaltung seit 2016 noch einmal deutlich verschärft hat. Seit der Wahl von Donald Trump sehen wir in Umfragen eine Spaltung der Amerikaner in zwei klar voneinander zu trennende Gipfel, die immer mehr auseinanderdriften. Die moderate Mitte verschwindet zunehmend. Wobei man ausdrücklich betonen muss: Das ist keine symmetrische Entwicklung. Beide Seiten bewegen sich nicht zu gleichen Teilen nach rechts und links.

Das heißt?

Der Haupttreiber für die Polarisierung in den USA sind die Konservativen beziehungsweise die Republikaner. Der Rechtsruck in der republikanischen Partei in den vergangenen 20 Jahren war deutlich stärker als der Linksruck bei den Demokraten. Den gab es tatsächlich nur während der Amtszeit des republikanischen Präsidenten George W. Bush. Danach stagnierte der Linksruck eher.

Woran machen Sie das fest?

Der Anteil der in der Öffentlichkeit sehr stark wahrgenommenen Linksaußen wie Alexandria Ocasio-Cortez an der Fraktion im Repräsentantenhaus ist eher gering. Diese laute Minderheit hat daher auch weniger Einfluss auf die ideologische Position der Demokraten im Kongress. Im Gegensatz dazu sind die Republikaner mittlerweile nahezu vollständig von Trump-Loyalisten in Geiselhaft genommen worden. Dieser Rechtsruck spiegelt sich auch im Abstimmungsverhalten im Kongress wider.

Joe Biden sind also als Versöhner die Hände gebunden?

Es gibt zwei Typen von Präsidenten, die das amerikanische Volk einen können. Die einen sind Charismatiker wie John F. Kennedy oder anfangs auch Barack Obama. Der andere Typus sind Südstaatler wie Jimmy Carter oder Lyndon B. Johnson, die aufgrund ihrer politisch-kulturellen Verortung im konservativen Süden und ihrer zugleich progressiven Haltung versöhnen können. Es gab einen Präsidenten, der beides in sich vereinte: Bill Clinton. Joe Biden ist das Gegenteil, er ist keiner der beiden Typen. Er gehört zum Establishment, kommt nicht aus dem Süden. Biden hat sehr viel Erfahrung, aber kann nicht sehr gut einigend wirken. Die immense Polarisierung verschärft dies noch einmal.

Bidens Zustimmungswerte sind mittlerweile auf nur noch 42 Prozent gesunken. Wie fällt Ihre Bilanz nach einem Jahr Joe Biden aus?

Gemischt. Sie wird aber sehr negativ wahrgenommen. Das liegt daran, dass Biden bei zentralen Themen weniger mit den Republikanern und mehr mit seiner eigenen Partei zu kämpfen hat. Dies dürfte ebenso wie das außenpolitische Fiasko beim Rückzug aus Afghanistan dazu beigetragen haben, dass seine Zustimmungswerte dramatisch gesunken sind. Biden macht gerade die Erfahrung, dass Wähler Politiker für die Durchsetzung unbeliebter Themen bestrafen, aber nur selten für verabschiedete Gesetze belohnen. Dabei können die sich sehen lassen. Beschlossen wurde ein 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket.

Und Joe Biden hat das 1,2-Billionen-Infrastrukturpaket durchgebracht. Das sind Summen, die wir uns in Deutschland kaum vorstellen können. Wahrgenommen wird aber eher, womit er gescheitert ist: die Wahlrechtsreform und das 1,7 Billionen Dollar schwere Klimaschutz- und Sozialprogramm, weil zwei Senatoren aus seiner eigenen Partei, die aus strukturkonservativen Bundesstaaten kommen, dies verhindert haben.

Dabei hat Joe Biden doch eine Mehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat, könnte also durchregieren.

Jein. Er hat durch die Stimme seiner Vizepräsidentin Kamala Harris zwar eine theoretische Mehrheit von 50 Stimmen im Senat. Joe Biden braucht allerdings eine qualifizierte 60-Stimmen-Mehrheit, um überhaupt bis zu einer Abstimmung zu kommen. Er bräuchte also zehn Republikaner, die für seine Vorhaben stimmen. Das ist nahezu unmöglich angesichts der tiefen Polarisierung.

Werden Bidens Demokraten bei den Wahlen im Herbst die Mehrheit im Kongress wieder verlieren?

Sehr entscheidend wird sein, ob Biden die galoppierende Inflation in den Griff bekommt – das ist wie in Deutschland auch in den USA ein tief sitzendes Trauma. Carter hat 1980 die Wahl auch wegen der hohen Inflationsrate von 14 Prozent verloren. Biden verfolgt einen ähnlichen Weg wie einst Richard Nixon. Er will die Inflation drücken, indem er viel Geld investiert. Alle anderen Wirtschaftsdaten in den USA sind allerdings sehr gut: Die Arbeitslosenquote ist von 6,4 Prozent zu seinem Amtsantritt auf 3,9 Prozent gesunken.

Die Beschäftigungsquote liegt bei 79 Prozent, vor der Pandemie betrug sie 81 Prozent. Biden hofft, dass die Inflationsrate bis zum Sommer deutlich sinkt – das betrifft vor allem die Energie- und Spritpreise. Deshalb hat er auch schon die eigenen Ölreserven angezapft. Doch ebenso wichtig ist das Lieferkettenproblem, das auch bei uns der Treiber der Inflation ist. Doch auch hier sind Joe Biden weitgehend die Hände gebunden, weil sich das nur global lösen lässt.

Der Kongress ist also verloren?

Ja. Seit 1945 hat der amtierende Präsident immer im Schnitt 26 Sitze im Repräsentantenhaus und vier im Senat verloren. Nur Bill Clinton und George W. Bush konnten Sitze hinzugewinnen. Wenn man Bidens geringe Zustimmungswerte einbezieht, sieht es düster aus. Die Demokraten werden daher mindestens 20 bis 30 Sitze im Repräsentantenhaus verlieren. Ich gehe davon aus, dass die Demokraten die Mehrheit in beiden Kongresskammern verlieren werden. Aber das macht Biden nicht zu einer „lame duck“ („lahmen Ente“). Man muss bedenken, dass US-Präsidenten seit längerer Zeit immer mehr mit Exekutivanordnungen und viel weniger mit Gesetzen regieren.

Die Demokraten wussten bereits bei Bidens Amtsantritt, dass sie schnell und entschieden liefern müssen. Das ist ihnen nur teilweise gelungen. Das Problem ist: Die Schwierigkeiten der USA sind so groß, dass selbst die billionenschweren Hilfsprogramme politisch verpuffen.

Trump scheint wie ein Elefant im Raum zu stehen. Ist das ein Problem für Joe Biden?

Die Omnipräsenz von Donald Trump ist vor allem Ausdruck einer tief greifenden Umwälzung innerhalb der republikanischen Partei. Die Republikaner betrachten ihn weiter als Anführer. Viele in der Partei sehen Trumps Äußerungen als Maß aller Dinge. Bei den Kongresswahlen dürfte es daher sehr schwer sein, an Trump vorbei Wahlkampf zu machen.

Wird Trump 2024 erneut als Präsidentschaftskandidat antreten?

Es war für die Republikaner ein großer Aha-Effekt, als Trump bei der Präsidentschaftswahl 2020 so viele Stimmen wie nie zuvor ein republikanischer Kandidat bekommen hat. Die Lehre für viele in der Partei ist: Wir kommen am Trumpis­mus nicht vorbei. Ob Trump 2024 wieder antreten wird, das ist für mich offen. Und es gibt Alternativkandidaten wie Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, der wie Trump tickt, aber jünger ist. Trump hat ihn jedoch als feige bezeichnet, weil DeSantis sich nicht zu seinem Impfstatus äußern wollte. Es ist kurios: Trump hat kein Problem damit, sich beim Thema Impfen von seinen Leuten ausbuhen zu lassen. Er wird unterstützt und profitiert von Impfgegnern, denen er ins Gesicht sagt, dass er geboostert ist. Das zeigt, wie unberechenbar er nach wie vor ist.

Ist die amerikanische Demokratie in Gefahr, und kann Biden sie retten?

Sie ist in Gefahr. Aber Biden allein kann sie nicht retten. Das ist eine Aufgabe aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte, gerade auch mit Blick auf das Bildungssystem. Biden hat begriffen, dass nicht nur die eigene Demokratie extremen inneren Angriffen ausgesetzt ist, sondern dass unsere Staatsform auch international etwa von China und Russland infrage gestellt wird. Hätte Biden größere Erfolge, würde dies auch die Demokratie stärken. Das allein wird aber nicht reichen. Es braucht strukturelle Veränderungen, für die große Mehrheiten nötig sind. Dafür bräuchte es aber einen anderen Präsidenten. Ideal wäre eine republikanische Präsidentin mit einem demokratischen Vizepräsidenten. Doch Demokraten und Republikaner leben auf völlig verschiedenen Planeten.

Was können wir daraus für Deutschland lernen?

Wir sind glücklicherweise weit entfernt von einer Polarisierung wie in den USA. Nur weil einige Hunderte gegen die Corona-Maßnahmen protestieren, ist unsere Gesellschaft noch nicht tief gespalten. In allen Demokratien gibt es 10 bis 20 Prozent der Bürger, die extreme Positionen vertreten. Trotzdem sollten uns die USA lehren, dass wir jeden Tag um diese Demokratie kämpfen müssen. Die amerikanische Demokratie ist da zu wenig wehrhaft gegen Angriffe aus dem Innern.

Das heißt?

Der absolute Anspruch auf die Meinungsfreiheit führt dazu, dass die Leugnung des Holocaust in den USA erlaubt ist. Doch wenn jede Meinung erlaubt ist, verschiebt das die Gleichgewichte in einer Demokratie in eine gefährliche Richtung. Deshalb ist es gut, dass die Meinungsfreiheit bei uns nicht schrankenlos ist. Seien wir ehrlich: Diejenigen, die eine Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland beklagen, können nicht damit leben, dass ihre Meinung nicht unwidersprochen bleibt. Tatsächlich wollen sie die Meinung der anderen gar nicht hören.

Verfassungsrichter weigert sich, Maske zu tragen

Das oberste US-Gericht ist in vielen Fragen gespalten. Jetzt gehört auch das Tragen von Masken auf der Richterbank dazu. Im aktuellen Fall geht es um die Verfassungsrichter persönlich: Der von Ex-US-Präsident Donald Trump ernannte konservative Richter Neil Gorsuch weigerte sich am Dienstag laut US-Medienberichten als einziger seiner anwesenden Amtskollegen, im Gerichtssaal eine Maske aufzusetzen.

Sonia Sotomayor, die liberale Richterin, die bei Verhandlungen sonst neben Gorsuch sitzt, verfolgte den Termin daher von ihrem Büro aus. Diabetikerin Sotomayor sei bei einer Infektion einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Nachdem sie beim konservativen Vorsitzenden Richter am Supreme Court, John Roberts, vorstellig geworden sei, habe dieser seine Kollegen gebeten, eine Maske aufzusetzen. Gorsuch sei dem nicht gefolgt. Für Richter am Supreme Court gibt es laut CNN keine Maskenpflicht, für Anwälte sowie Medienvertreter aber sehr wohl. Die Richter seien alle geimpft und geboostert und würden regelmäßig getestet.

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