Rheinland-Pfalz
Sigmar Gabriel ganz privat: In Zell an der Mosel verbrachte er die glücklichsten Tage seiner Kindheit

Ein Ausflug an der Mosel mit Frau und Kind: Sie besuchen die Geierlay-Hängeseilbrücke...

Es gibt Politiker, die können mit einer einzigen Rede einen Saal voller Kritiker in einen Saal voller Anhänger verwandeln. An guten Tagen versetzen sie Gebirge, an schlechten Tagen bringen sie sie wieder zum Einsturz. Sigmar Gabriel ist solch ein Politiker. Der SPD-Bundesvorsitzende, Wirtschaftsminister und Vizekanzler ist ein mächtiger Mann, auch ein wortmächtiger. Einer, der seine Partei führt. Und einer, an dem seine Partei leidet. Seine Unberechenbarkeit ist Legende, manchmal auch seine Unbeherrschtheit.

Szenen eines Lebens: Dieses Bild zeigt Sigmar Gabriel mit seiner inzwischen verstorbenen Mutter Antonie, die 1999 mit ihm den Wahlsieg als neuer niedersächsischer Ministerpräsident feierte. Er war ihr immer dankbar, dass sie in schweren Zeiten zu ihm hielt.

dpa

Eine persönliche Begegnung in dem Städtchen Zell an der Mosel offenbart indes eine ganz andere Facette. Eine sehr menschliche, verletzliche. Vielleicht liegt es an dem Ort des Gesprächs. Hier hat der Sozialdemokrat die wohl glücklichsten Tage seiner Kinder- und Jugendzeit verbracht. Das wiegt schwer für Sigmar Gabriel. Denn seine Kindheit war alles andere als glücklich.

Der Vater war ein Despot

In einem der Gasträume eines Hotels beginnt er, zu erzählen. Von seinem Vater, der ein Despot war. Von seiner Mutter, die seine Rettung war. Und von seiner Tante in Zell, der kleinen Glücksinsel im Moselland. Gabriel macht während des Gesprächs wenig Aufhebens um sich selbst. Als der Kellner keinen Brühkaffee servieren kann, weil er am späten Nachmittag die große Maschine nicht mehr anwerfen möchte, nimmt er eben Mineralwasser. Die Bodyguards sitzen im Nebenraum, sind unsichtbar. Ansonsten sind wir allein.

Auf diesem Bild trägt Gabriel sich 2006 ins Goldene Buch der Stadt Zell ein.

Kevin Rühle

Das Gespräch fühlt sich fast privat an, obwohl es natürlich kein privates Gespräch ist. Zwischendrin ist kurz der Schauspieler Jan Josef Liefers am Telefon. Es geht um die Hilfsstiftung von Filmkollege Til Schweiger und eine syrische Band, deren Mitglieder als Asylbewerber auf verschiedene Unterkünfte verteilt werden sollen. „Um so etwas muss ich mich als Regierungsmitglied kümmern“, brummelt Gabriel, „damit die wieder zusammen Musik machen können.“

Der Anruf soll die einzige Unterbrechung bleiben. Gabriel ist an diesem Wochenende bei Verwandten an der Mosel. Er hat seine Cousins und Cousinen getroffen, ist bei einem befreundeten Winzer eingekehrt. Das Tagesprogramm könnte jede deutsche Durchschnittfamilie absolviert haben: ein Besuch mit Frau Anke und kleiner Tochter Marie im Klottener Wildpark, ein Gang über die Geierlay-Hängebrücke im Hunsrückort Mörsdorf. Sie ist mit 360 Metern die längste derartige Konstruktion in Deutschland, rechts und links geht es 100 Meter in die Tiefe. Mit Abgründen kennt Gabriel sich aus.

Sein Vater war nicht das, was man als einen liebevollen Vater bezeichnen könnte. Eher ein Tyrann, der prügelte, der dem kleinen Sigmar das Taschengeld kürzte, wenn er die neue Frau nicht „Mutti“ nannte, und seinem Sohn die Kuscheltiere wegnahm, stimmten die Noten einmal nicht. Als Gabriel drei Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Sieben Jahre kämpfte die Mutter für Besuchszeiten und Sorgerecht – sogar mit einem Sitzstreik vor Gericht. Mit zehn Jahren endete das Martyrium des Jungen. Er durfte zur Mutter ziehen.

Acht Jahre später erfuhr Gabriel, dass sein Vater ein überzeugter Nazi war – das Verhältnis war irreparabel. Walter Gabriel, ein Kommunalbeamter im Ruhestand, hielt bis zu seinem Lebensende an seiner wirren Ideologie fest. Gabriel hat diese Geschichte 2013 erstmals einem Journalisten der „Zeit“ offenbart. Sie stellt das öffentliche Bild eines Politikers infrage, dem lange mit „Siggi Pop“ etwas Unseriöses anhaftete, dessen Sprunghaftigkeit verstörte, der wie ein Getriebener wirkte, ohne dass zu erkennen war, worin die Triebfeder seines Handelns lag.

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Gabriels Eltern waren Vertriebene. Der protestantische Vater kam aus Schlesien, die katholische Mutter aus Ostpreußen; Gebiete, die nach dem Zweiten Weltkrieg Polen zufielen. Beide „verarbeiteten ihr Vertriebenenschicksal völlig unterschiedlich“, sagt Sigmar Gabriel. Vater Walter leugnete die Schuld Adolf Hitlers bis zum Tod. Mutter Antonie schickte in den 80er-Jahren Päckchen nach Polen, als es den Menschen dort dreckig ging, weil Ex-General und Ministerpräsident Wojciech Witold Jaruzelski das Kriegsrecht verhängt hatte.

Ende der 40er-Jahre wanderte die Familie der Mutter nach Nachkriegs-Deutschland ein. Zuerst arbeitete sie in Halle an der Saale als Krankenschwester, damals noch im US-Sektor. Später kam die Stadt in Sachsen-Anhalt zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Bei der Flucht in den britischen Besatzungsbereich wurde die Mutter von einem Soldaten der deutschen Miliz erwischt. Doch sie hatte Glück. Genau diesen Soldaten hatte sie in der Klinik gepflegt. Er ließ sie passieren. Sonst wäre Gabriel nicht im Westen, sondern in der früheren DDR geboren worden. „Für mich war das immer ein Hinweis auf die Zufälligkeit, ob man als Westdeutscher oder Ostdeutscher aufgewachsen ist“, sagt er.

...und den Klottener Wildpark. Kurzzeitig hat der SPD-Chef einen Vogel, genauer: einen Adler, auf dem Arm.

Gabriels Familiengeschichte nennt er „eine wilde Geschichte von Flucht und Vertreibung“. Seine Eltern lernten sich in Hildesheim kennen, bevor sie ins niedersächsische Goslar zogen. In Hildesheim war die Zuteilungsstelle. Die Zeiten waren hart. Die Winzer von der Mosel hatten Speisen und Wein im Gepäck, Kostbarkeiten auch für manche Sachbearbeiter.

In der Familie Gabriel wird noch heute schmunzelnd erzählt, „dass ein Kopfnicken der anwesenden Winzer zur Zuweisung der Frauen an die Mosel führte“. Ein Großteil der Familie strandete so in Zell und in Niederweis. Die Anfänge waren hart. Ein Bruder der Mutter hauste zunächst in einem zugigen Schloss. Die Großmutter und Gabriels spätere Lieblingstante samt kleinem Baby bekamen in Ottbergen bei Hildesheim so wenig von den Bauern zu essen, dass sie nur überlebten, weil ein Mönch aus ihrer Heimat Lebensmittel über die Klostermauern warf. Besuchten sich die Schwestern, lebte sie mit neun Personen auf anderthalb Zimmern.

Aus Ostpreußen vertriebene Deutsche wurden damals nicht selten als „Polacken“ beschimpft. Das empörte die Frauen, da sie zuletzt in der Universitätsstadt Kaliningrad, dem einstigen Königsberg, gelebt hatten. Dort hatte Gabriels Mutter im Krankenhaus „Barmherzigkeit“ ihre Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Jahrzehnte später, bei einer Reise nach Kaliningrad, haben Mutter und Sohn diese Klinik wiedergefunden.

In jungen Jahren waren die Besuche bei der Lieblingstante an der Mosel für Sigmar Gabriel ein Stück heile Welt. Bereits in der unseligen Phase bei seinem Vater durfte er dort ab und zu eine Woche Ferien machen. Später wurden daraus wochenlange Aufenthalte. Mit seinen Cousins und Cousinen stromerte er durch die Weinberge. Als Jugendliche machten sie die Weinfeste unsicher. „Für mich Norddeutschen war das ein Ort der Ausgelassenheit, eine zweite Heimat“, sagt Sigmar Gabriel heute. Es klingt wie die erste Heimat. Mindestens einmal im Jahr kommt er hierher.

Auch nach seiner Rückkehr zur Mutter wandelte sich nicht alles schlagartig zum Guten. Der Zehnjährige wurde zum Problemkind, pfiff auf Regeln, klaute, zerstach Reifen. Es dauerte Jahre, bis er die Kurve kriegte. Umsomehr muss es ihn wundern, wo ihn das Leben bis heute hingeführt hat. Irgendwann münzte der junge Sigmar seinen Zorn über all die seelischen Qualen wohl in politisches Engagement um. Die Mädchen taten ein übriges, hat er in dem „Zeit“-Gespräch erzählt. Seiner Mutter war er bis zu ihrem Tod dankbar, dass sie zu ihm gestanden hat, um ihn kämpfte. Auch dann noch, als er ihr das Leben schwer machte.

In Ostpreußen auf Spurensuche

Über seine Mutter und seine Tante spricht Gabriel mit großem Respekt. Dreimal war er in den 90er-Jahren mit ihnen in Ostpreußen auf Spurensuche. Auch im Dorf Konegen, wo seine Mutter geboren wurde und Gabriels Großvater als Knecht beim Müller diente. Tiefe Wurzeln hat die Familie auch in der Kreisstadt Heilsberg (Woiwodschaft Ermland-Masuren) geschlagen, die heute Lidzbark Warminski heißt. Gabriel sah dort, wo und wie seine Mutter lange gelebt hatte.

„Meine Mutter und meine Tante waren starke Frauen“, sagt Gabriel. Sie trauten sich was. Bei einem Besuch (ohne den heutigen SPD-Chef) fanden sie in einer Schutthalde im einstigen Heilsberg eine verwahrloste Engelsfigur aus ihrer alten Kirche. Die älteren Damen schleppten sie auf ihr Hotelzimmer und brachen sie entzwei. Die untere Hälfte versenkten sie beim morgendlichen Schwimmen im nahe gelegenen See. Der halbe Engel passte in den Koffer. Sie schmuggelten ihn aus dem Land. Zuhause wurde Zerbrochenes geheilt, die Figur liebevoll restauriert. Sie ist bis heute in Familienbesitz. Als Schutzengel.

Dietmar Brück

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