Es bleibt nur die Erinnerung. An Kollegen, an Freunde. Rund ein Dutzend ehemalige Lehrer der Schillerschule – bis 2000 Haupt-, seitdem Grundschule – sind in den vergangenen zehn Jahren an Krebs erkrankt. Einige sind verstorben, andere konnten die Krankheit besiegen, weitere kämpfen. Eine langjährige Kollegin hat die Namen aufgeschrieben, sie sollen nicht vergessen werden. „Natürlich fragt man sich, ob da ein Zusammenhang mit dem alten Gebäude besteht“, sagt sie. Oder ist die hohe Zahl erkrankter Lehrer bloß Zufall, immerhin sind viele schon im Rentenalter – und Krebs ist längst eine weit verbreitete Zivilisationskrankheit.
Fakt ist, dass die Schillerschule in den Jahren 1960/61 gebaut wurde – jene Zeit also, in der vielerorts Baustoffe verwendet wurden, deren Gefährlichkeit sich erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte herausstellte. Man denke nur an Asbest, Holzschutzmittel, Klebstoffe, alte Mineralwolle, die sich im Nachhinein als toxisch erwiesen haben. Experten wissen: In nahezu allen im Zeitraum zwischen 1950 und 1990 errichteten Gebäuden sind solche Schadstoffe zu finden. Oft werden sie erst bei einer umfangreichen Sanierung entdeckt. Ist es möglich, dass solche Baustoffe auch in der Schillerschule zu finden sind?
Verunsicherung im Kollegium
Auf Nachfragen geben sich Schulleitung und Schulträger über Wochen zugeknöpft – und verweisen auf ein Gutachten aus dem Jahr 2009, als ein Stück einer Bodenplatte untersucht wurde. Damals konnte kein Asbest gefunden werden. Auch die Stadt verweist auf bereits durchgeführte Untersuchungen und folgert: „Die Vielzahl der sehr unterschiedlichen Erkrankungen lässt auch keine Ursache im Schulgebäude erkennen, weshalb der Schulbetrieb fortgeführt wird.“
Im Kollegium ist das Thema nichtsdestotrotz präsent, gerade dann, wenn eine neue Erkrankung bekannt wird. „Man spricht darüber und fragt sich, ob das alles Zufall ist“, berichtet ein junger Lehrer. Dass die Häufigkeit der Diagnosen nicht normal sein kann, denkt auch Klaus Westenberger. Seine Frau Hannele ist im April 2015 im Alter von 65 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstorben. Waren mögliche Altlasten jemals Thema in der Familie? „Hannele hat darüber zu Hause eigentlich nie gesprochen“, erinnert sich Westenberger. „Aber ich weiß von ihr, dass im Kollegium häufig diskutiert wurde.“
Nach dem frühen Tod der Ehefrau hat auch Westenberger viele Fragen gestellt – zufriedenstellende Antworten gab es bis heute keine. Warum wurde das Schulgebäude nie umfassend auf Schadstoffe untersucht? Was ist mit dem Untergrund? Wieso wurde nie die Raumluft im Schulgebäude gemessen? Klaus Westenberger weiß keine Antwort. „Überall wird abgewunken und gesagt, das Thema hat keinen Zweck, da geht keiner dran.“
Gab es in all den Jahren denn keinen Entscheider, der darauf drängte, umfassend zu untersuchen? Wird da ein sensibles Thema totgeschwiegen? Zumindest bei Erika Schmitt-Neßler hat sich dieser Eindruck verfestigt. Die 79-Jährige war viele Jahrzehnte in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Rheinland-Pfalz als Personalrätin aktiv und betreute auch viele Lahnsteiner Schulen. „Die GEW hatte in dieser Sache über Jahre Kontakt zum Personalrat“, erklärt Schmitt-Neßler, deren Mann Aki Schmitt an der Schillerschule unterrichtete. Es habe immer wieder vereinzelte Vorstöße gegeben, erinnert sich Schmitt-Neßler. „Aber diese sind meines Wissens nach alle im Sande verlaufen.“
„Zu meiner Zeit wurde immer mal wieder was gemunkelt“, erinnert sich der ehemalige Rektor Hans Rothenbücher. „Wobei man dazusagen muss, dass viele Krebsfälle auch erst später aufgetreten sind.“ Wenn überhaupt, kann sich der pensionierte Schulleiter belastete Materialien in alten Deckenverkleidungen oder Wänden vorstellen. „Aber das ist Spekulation.“
Stadt kündigt Luftmessungen an
Eine, die immer davon überzeugt war, dass etwas im Argen liegt, ist Ingrid Barkhausen. Die ehemalige Lehrerin der Schillerschule hat das Thema schon früh zur Sprache gebracht, „aber keiner wollte etwas davon hören“. Über Jahre habe sie sich isoliert gefühlt und im Lehrerkollegium Unterstützung vermisst. Ein einziges Mal seien „klammheimlich“ Messungen durchgeführt worden, erinnert sie sich. „Aber da kam nichts raus.“ Ihre Forderung: „In der gesamten Schule müsste die Luft gemessen werden.“
In der vergangenen Woche die Überraschung: Die Stadt sieht nun doch die Notwendigkeit für weitere Untersuchungen. Die Pressestelle schreibt dazu: „Da der Eindruck entstanden ist, dass offenbar nach wie vor Unsicherheiten im Zusammenhang mit den in der Vergangenheit aufgetretenen Erkrankungen von Lehrkräften bestehen, hat eine weitere Unterredung mit der Schulleitung und Vertretern des Kollegiums stattgefunden.“ Denn der Schulträger nehme das Thema „sehr ernst“ und „möchte den aufgekommenen Sorgen aktiv begegnen“. Bei der Unterredung ist vereinbart worden, Luftraummessungen im Schulgebäude durchzuführen. Eine erste Messung soll Mitte Januar durch das Landesamt durchgeführt werden. „Eine zweite Messung folgt dann bei trockener Witterung im Sommer.“
Am gestrigen Freitag tauchte dann noch eine Information auf: 2003 gab es doch schon mal eine Luftuntersuchung, allerdings nur in der Rhein-Lahn-Halle, wo sich Deckenteile gelöst hatten. Das Urteil der Unfallkasse damals: unbedenklich. Mittlerweile ist die Halle kernsaniert worden. Für die Verwaltung macht diese Untersuchung aber deutlich, „dass der Schulträger immer tätig geworden ist, wenn entsprechende Verdachtsmomente an ihn herangetragen wurden.“
Die Schulleitung war gegenüber unserer Zeitung nicht bereit, sich zu dem Thema zu äußern. Rektorin Heike Koulen verweist lediglich darauf, „dass mit dem Schulträger Maßnahmen vereinbart wurden“.