Schlechte Anbindung, unregelmäßige Fahrten: Wer nicht mitten in der Stadt lebt, hat im Flächenland Rheinland-Pfalz mit Bus und Bahn oft schlechte Karten. Doch natürlich müssen viele Bewohner des ländlichen Raumes gelegentlich auch ihre ländliche Wohlfühloase verlassen und sich auf die Reise in die nächste Stadt begeben. Und sei es nur für Besorgungen oder den obligatorischen Arztbesuch. Verkehrsexperten nennen solche Verflechtungen eine Reise ins nächste Mittel- oder Oberzentrum, die Versorgungszentren werden in der Raumentwicklung als „zentrale Orte“ bezeichnet. Aber wie gut sind in diese erreichbar?
Um das herauszufinden, hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) nachgerechnet und ein Erreichbarkeitsmodell erstellt. Das Ergebnis: Fast die ganze deutsche Bevölkerung (99,5 Prozent) erreicht innerhalb einer halben Stunde mit dem Auto den nächsten zentralen Ort. Die Erreichbarkeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist dabei hierzulande noch ausbaufähig: Mit diesen schaffen es in der gleichen Zeit dagegen nur 82 Prozent.
Finden Sie auf unserer interaktiven Karte heraus: Wie lange brauchen Sie aus Ihrer Gemeinde in den nächsten „zentralen Ort“?
Mehr als 1.100 solcher Versorgungszentren wurden im Jahr 2020 im Bundesgebiet ausgewiesen.
Für eine Einordnung werden sie dabei in drei Stufen unterteilt: Zu den typischen Einrichtungen der Grundzentren zählen etwa Grundschulen, Apotheken, Arztpraxen, Banken und Supermärkte. Das Angebot in Mittelzentren ist mit weiterführenden Schulen, Krankenhäusern und höheren Verwaltungen etwas umfassender. In Oberzentren finden sich schließlich Universitäten, hochrangige Kultur- und Sporteinrichtungen sowie obere Landesbehörden.
Die Bedeutung eines Ortes bemisst sich nicht nach seiner Größe, sondern nach der Infrastruktur im Vergleich zur näheren Umgebung.
Gerade die Mittelzentren sind laut dem Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen dabei von besonderer Relevanz: Denn sie sind „nicht nur wichtige Anker für die Versorgung und die Entwicklung der ländlichen Räume, sondern [...] immer auch Knotenpunkte des öffentlichen Verkehrs.“
Für alle Menschen, die nicht mittendrin wohnen, ist es also enorm wichtig diese zentralen Orte zu erreichen. Nicht immer ist dies allerdings selbstverständlich.
Zweifel an Verlässlichkeit des Modells
Bei näherer Betrachtung des Erreichbarkeitsmodells fallen die etwas unkonkreten Zeitangaben auf. Können sich aus dem Modell somit überhaupt Rückschlüsse über die Mobilität in Rheinland-Pfalz ziehen lassen? Für Prof. BauAss. Dipl.-Ing. Dirk Fischer von der Hochschule Koblenz nur bedingt: Im Interview mit unserer Zeitung sagt er, dass für den Einzelnen mit dem Modell keine direkten Rückschlüsse über die Erreichbarkeit getroffen werden können, da es sich bei den Fahrzeiten lediglich um Durchschnittswerte handelt und zwischen den „zentralen Orten“ nicht differenziert wird.
„Insgesamt spiegeln die angegebenen Fahrtzeiten nicht die tatsächlichen Fahrtzeiten wider“, konstatiert Fischer.
So seien die angegebenen Zeiten eher theoretischer Natur und beziehen sich meist auf Luftlinien, die eine unbehinderte Fahrt ohne Störungen voraussetzen. Jeder, der schon mal deutlich länger für seinen Weg wohin-auch-immer gebraucht hat, kann sich also hier eher nicht wiederfinden. „Dies führt zwangsläufig zu Akzeptanzproblemen.“
Wenn die Mobilitätswende in Rheinland-Pfalz gelingen soll, müssen mehr Menschen auf Bus und Bahn umsteigen. Doch wie kann der laufend bestreikte ÖPNV gerade für Pendler attraktiver werden - insbesondere in ländlichen Regionen?Verspätungen, Ausfälle und immer wieder Streiks: Wie kann der ÖPNV attraktiver werden?
Allerdings, sagt Fischer, lassen sich aus dem Modell Trends herauslesen, „welche Regionen in ihrer Lage verkehrlich begünstigt sind und welche eben nicht.“
Das System der zentralen Orte ist ihm zufolge weiterhin ein „wichtiger Bestandteil der Raumordnung und den Regionalplanungen“. Wichtiger jedoch als die reine Begriffsdefinition der zentralen Orte sei heute die Erreichbarkeit von wichtigen infrastrukturellen Einrichtungen wie der Nahversorgung oder von Freizeitangeboten.
Vereinfacht gesagt also: Wie gut ist mein nächster Hausarzt, Supermarkt oder Krankenhaus zu erreichen? Und das müsse sich nicht nur auf die Entfernungen mit dem Pkw beziehen, sondern auf die Reise mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln. Verkehrsexpertinnen- und Experten sprechen dann von einer sogenannten „Multimodalität“, also der Möglichkeit, diverse Verkehrsmittel im Alltag zu nutzen. Etwa mit dem Fahrrad zur Arbeit, mit dem Bus zum Sport und dem Carsharing-Auto zum Baumarkt zu fahren.
Wie gut ist also die Erreichbarkeit im nördlichen Rheinland-Pfalz?
Hausarzt, Apotheke, Kino oder Kita: Wenn der Blick sich von der Erreichbarkeit der zentralen Orte hin zu den lokalen Einrichtungen des öffentlichen Lebens wendet, müsste sich ein ausgewogeneres Bild zeigen. Das Problem an der Sache: Die Datenlage. Oder besser gesagt, der Fokus derer. Denn während es allerlei Studien, Daten und Auswertungen zur Erreichbarkeit solcher Einrichtungen gibt, ist das Transportmittel meist dasselbe: nämlich der Pkw. Fahrzeiten mit dem Fahrrad oder ÖPNV sucht man etwa im „Deutschlandatlas“ – dem gemeinsamen Angebot zahlreicher Bundesministerien sowie dem Statistischen Bundesamt, dem BBSR und dem Bundesforschungsinstitut für ländliche Räume – vergebens.
Klar ist jedoch auch: Gerade im ländlichen Raum ist der Pkw meist das Verkehrsmittel erster Wahl.
Machen die den Vergleich: Wie lange brauchen Sie aus Ihrer Stadt oder Gemeinde zur nächsten Einrichtung des öffentlichen Lebens?
Rheinland-Pfalz ist ein Autoland
Teilweise dreimal so lang sind Reisende mit dem öffentlichen Nahverkehr unterwegs. Dies weicht erheblich von den gewünschten Vorgaben der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen ab, meint Professor Fischer. Demnach sollte die Erreichbarkeit des nächsten Mittel- und Oberzentrums mit dem ÖPNV nicht mehr als das Anderthalbfache der Pkw-Fahrzeit betragen. In Rheinland-Pfalz ist dies jedoch oft (noch) nicht realisierbar.
Die längeren Fahrzeiten im ÖPNV liegen auf der Hand: Wartezeiten, eventuelle Umstiege, hinzu kommen in den vergangenen Monaten etliche Bauarbeiten und Streiks. All das kostet Zeit, die häufig mit dem eigenen PKW vor der Haustür so nicht anfällt.
Trotz vieler Debatten über eine Verkehrswende ist die Autodichte in Deutschland auf Rekordniveau. Zu diesem Ergebnis kommt das Statistische Bundesamt auf Basis von Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA). Die meisten Autos besitzen demnach Bewohner im Saarland, Rheinland-Pfalz steht mit einer Pkw-Dichte von 629 Autos je 1.000 Einwohnern an zweiter Stelle. Der Statistik nach sind die regionalen Unterschiede hierbei sehr groß: In den westlichen Flächenländern ist die Pkw-Dichte sehr viel höher als in den Stadtstaaten mit dichtem Nahverkehrsnetz.
Die Zahl der zugelassenen Autos nahm seit 2012 deutlich stärker zu als die Bevölkerung. Den Berechnungen zufolge besaßen mehr als drei Viertel (78 Prozent) der deutschen Privathaushalte im vergangenen Jahr mindestens ein Auto. Ein Grund für diesen stetigen Anstieg ist auch der Trend zum Zweit- oder sogar Drittwagen. Im Zeitraum von 2012 bis 2022 stieg der Anteil der Haushalte mit zwei Pkw von 24,5 Prozent auf 27,0 Prozent sowie der Anteil der Haushalte mit drei oder mehr Autos von 4,1 auf 6,2 Prozent.
Um die Lagegunst von Regionen und die Versorgung mit Infrastruktureinrichtungen zu bestimmen, wurden im Erreichbarkeitsmodell des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) Fahr- und Reisezeiten zu raumbedeutsamen Einrichtungen und Orten wie Oberzentren, Mittelzentren, Flughäfen oder Autobahnen errechnet. Die Analysen des Modells beziehen sich dabei auf verschiedene Verkehrsträger und reichen über die regionale Ebene bis hin zur europäischen Ebene. Grundlage in den Berechnungen sind digital erfasste Verkehrsnetze für Straßen, Schienen und die Luftfahrt.