Misshandlungen in Marienhöh
„Die Nächte waren für mich Horror“
Christlichkeit? Heinz Hagenbuchner berichtete 2013 von schlimmen Wochen im Kloster Marienhöh in Langweiler im Kreis Birkenfeld. Jetzt sollen die Geschehnisse aufgearbeitet werden.
Reiner Drumm

„Ich bin mit Angst eingeschlafen, hatte Angst vor der Dunkelheit und wurde zum Bettnässer.“ Sätze wie dieser stehen zuhauf im offiziellen Bericht über die Misshandlungen von Kindern im Erholungsheim Marienhöh. Ein erschütterndes Dokument.

Erbrochenes essen, Schläge auf den nackten Po, Demütigungen, harte Strafen, Briefzensur: Ehemalige Verschickungskinder des Kindererholungsheims Marienhöh der Marienschwestern im Kreis Birkenfeld berichten immer wieder von dort erlebter Gewalt beim Essen, harten Strafen, Briefzensur und erzieherischem Zwang. Einen umfangreichen Blick auf die Geschehnisse ermöglicht ein nun vorgelegter Untersuchungsbericht.

Unsere Zeitung hatte bereits im Juni 2013 über erhebliche Misshandlungen im Heim berichtet: Heinz Hagenbuchner, damals 66 Jahre alt und in der Nähe von Ulm wohnhaft, hatte Kontakt zu unserer Lokalredaktion in Idar-Oberstein aufgenommen. Hagenbuchners Geschichte reicht weit zurück: ins Jahr 1959, als er – zwölf Jahre alt – gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder (zehn Jahre) für sechs Wochen zur Erholung ins Heim Marienhöh geschickt wurde. Hagenbuchner schilderte erschütternde Vorgänge.

Die Kongregation der Marienschwestern setzte mit der Theologin Barbara Kreichelt im Februar 2024 eine Ansprech­person für Betroffene ein und beauftragte sie mit der Dokumentation der geschilderten Erlebnisse: eine Entscheidung, die Hagenbuchner damals im Gespräch mit unserer Zeitung sehr begrüßte. Die Ergebnisse persönlicher Gespräche mit ehemaligen Verschickungskindern, die Aus­wertung eines Fragebogens und die Recherchen im Berliner Archiv der Marienschwestern liegen nun vor.

„Warum tun Menschen so etwas?“
Diese Frage stellt Theologin Barbara Kreichelt in ihrem Bericht

Die Betroffenen und Ehema­ligen der Kindererholung im Heim der Marienschwestern haben den Bericht bereits vorab erhalten. Das 64-seitige Papier umfasst historische Hintergründe, die Gründung und Entwicklung der Kongregation der Marienschwestern, die Vertreibung der Schwestern nach dem Zweiten Weltkrieg und die Anfänge des Kindererholungsheims im Ort Langweiler. Im Zentrum steht die Auswertung von Fragebögen, die an ehemalige Verschickungskinder gesendet wurden. Verschickt wurden 33 Fragebögen. 23 Fragebögen kamen wieder zurück.

Verschiedene Aspekte wie die familiäre Situation vor dem Aufenthalt, Erfahrungen in der Schule, mit Lehrern, Pfarrern und Ausbildern sowie spezifische Erlebnisse im Heim – werden beleuchtet. ​Die Berichte der Betroffenen sind nach Themen wie Schlafsaal, Gewalt beim Essen, Heimweh, Bewegung draußen, medizinische Behandlung, Toilettengänge und Nachwirkungen sortiert.

Ein Teil ist auch den Schwestern gewidmet: ein Annäherungsversuch an die Gründe für das Verhalten der Schwestern und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Abschließend wird die Frage „Warum tun Menschen so etwas?“ gestellt. Der Bericht schließt mit der Feststellung, dass eine umfassende Aufarbeitung und Anerkennung des Leids der Betroffenen notwendig sei, um die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. ​

Heinz Hagenbuchner berichtete 2013 von schlimmen Wochen im Kloster Marienhöh - dort wurden die Kinder gezwungen, bis zum Erbrechen zu essen - und das Erbrochene dann wieder zu essen. Nun soll der dunkle Fleck in der Geschichte des Marienhöh, das mittlerweile ein schickes, mehrfach ausgezeichnetes Hotel ist, aufgearbeitet werden. Es treten immer mehr Betroffene an die Öffentlichkeit. (Archivbild)
Reiner Drumm

Wenige Befragte haben ihren Aufenthalt in guter Erinnerung, viele nicht. Ein Auszug aus den Original-Antworten ehemaliger Verschickungskinder liefert erschütternde Erkenntnisse:

  • „Die Nächte waren für mich Horror. Reden oder Umdrehen im Bett war nicht erlaubt. Aufstehen, um zur Toilette zu gehen, nur im äußersten Notfall und in Begleitung einer Schwester. Regelmäßig gab es Kontrollen durch die Schwestern.“
  • „Abends beim Einschlafen mussten wir mucksmäuschenstill im Bett liegen, die Nachtwache saß im Flur und leuchtete einem beim kleinsten Geräusch mit ihrer Taschenlampe ins Gesicht und schimpfte und drohte mit einem Einzelzimmer. Auch durften wir nicht zur Toilette.“
  • „Ich habe mich vor dieser Blutsuppe einfach nur geekelt und habe gesagt, ich will lieber nichts essen. Die Schwestern blieben hart, der Speisesaal leerte sich und ich saß alleine da. Immer wieder kam eine Schwester, um zu kontrollieren, ob der Teller leer war. Ich habe geweint und gebettelt – keine Chance.“
  • „Ich sollte meinen erbrochenen Salat essen. Musste bis zum Abendessen im Speisesaal sitzen. Aber das Abendessen bekam ich nicht und musste ins Bett. Hungrig.“
  • „Einmal gab es Milch- oder Grießbrei mit Pflaumen. Ich aß nur die Früchte. Als es bemerkt wurde, musste ich den Brei essen. Vor Ekel erbrach ich mich auf den Teller. Die Schwester verlangte, den Teller leer zu essen, trotz des Erbrochenen.“
  • „Ich hatte eine große klaffende Platzwunde, die auf der Länge des Auges verlief, stark blutend. Die betreuende Schwester schrie mich an und knallte mir mit der Hand als Strafe ins Gesicht. Die Wunde wurde nur mit einem Pflaster versehen, diese hätte eigentlich genäht werden müssen.“
  • „Vor Jahren habe ich durch Zufall die Marienhöh besucht. Heute ein schönes Hotel. Mein Mann und ich wollten dort essen. Als das Essen kam, musste ich sofort das Haus verlassen. Ich bekam eine Art Panikattacke. Wir sind dann gefahren. Ich war sehr aufgewühlt.“
  • „Das Schlimmste waren die Schläge auf den nackten Po. Es herrschte abends spät Krach im Schlafsaal, und die Schwester schlug mich mit einem Turnschuh und sagte, jetzt tut sie auch noch so unschuldig.“
  • „Ich bin mit Angst eingeschlafen, hatte Angst vor der Dunkelheit und wurde zum Bettnässer. Dafür gab es wieder Prügel.“

In dem Bericht heißt es weiter, dass offenbar alle Betroffenen als Erwachsene ihr Leben in eigene Hände nehmen und entwickeln konnten. „Dennoch hat die Berichterstattung über Verschickungskinder in ihnen diesen dunklen Erinnerungspunkt wieder aktiviert. So stark, dass diese sechs Wochen zum Beispiel von einer Betroffenen wie ein Raub an der eigenen Lebenszeit empfunden wird.“

Andere Personen berichteten von immer noch bestehenden Beeinflussungen wie von Ekelgefühlen bei bestimmtem Essen oder Schwierigkeiten in Schlafsituationen. Häufig sei eine nachvollziehbare Empörung über die Widersprüche der Institution Kirche zu ihren eigenen erhobenen moralischen Ansprüchen wahrzunehmen.

Etliche Betroffene hätten ihre Beheimatung in der Kirche verloren, einige hätten bewusst aufgegeben, manche könnten sich dort weiter wohlfühlen: „Aber alle mussten zur Kirche nach diesem Erleben eine bewusste Entscheidung treffen.“ Neben die Frage „Warum tun Menschen so etwas?“ stellt Kreichelt die Aussage eines anderen ehemaligen Verschickungskindes: „Das ganze Land war traumatisiert.“

Ausgehend von ihrem Bericht über die Vorkommnisse in Marienhöh liefert Kreichelt Fragen, die sie für sich stehen lassen möchte: „Weshalb konnten kranke Kinder nicht bei ihren Eltern gesund gepflegt werden? Weshalb wurde der Heimaufenthalt in der Fremde ohne Kontakt nach Hause als sinnvoll angesehen? Warum müssen Ordensfrauen unbedingt mit Kindern arbeiten, und welche Rollenvorstellungen stehen dahinter? War das Deutschland in den Jahren zwischen 1950 und 1980 nicht in der Lage, die emotionalen Bedürfnisse seiner Kinder wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren?“

Die Theologin fragt auch: „Wie wollen die kirchlichen Einrichtungen im Einzelnen und die kirchliche Institution im Gesamten das Dilemma einer für sich reservierten Moralfähigkeit und ihrem kläglichen Scheitern an der eigenen Moralvorstellung erklären und benennen?“

Interessierte können den Bericht als PDF-Datei über Barbara Kreichelt erhalten, Anfragen per E-Mail an ansprechperson-orden@mailbox.org

Wie es mit dem Kloster weiterging

In Langweiler hielten sich pro Jahr zwischen 900 und 1000 Kinder zur Erholung auf. Das Kindererholungsheim existierte 37 Jahre lang, sodass im Zeitraum von 1951 bis 1980 ungefähr 29.000 Mädchen und Jungen dort für einen Zeitraum von etwa vier Wochen bis zu einem Jahr untergebracht waren. Nach dem Krieg wurde das Haus zwischenzeitlich für die Pflege älterer Menschen durch den Orden der Trierer Borromäerinnen genutzt. Ab 1980 gingen die Belegungszahlen stark zurück. Mit dem letzten Gottesdienst in der Kapelle am 7. Juni 2004 endete die Zeit von Marienhöh als Kloster. 2002 gaben die Marienschwestern das Anwesen auf. Ende 2004 erwarb die private Immobiliengesellschaft BonnVisio das Areal mit allen Gebäuden. Das Marienhöh-Hotel (Hideaway-Hotel am Nationalpark) wurde am 1. Mai 2009 eröffnet und besteht bis heute. vm

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