Mit einer Neigung von 5,4277 Grad übertrifft er nicht nur den vorherigen Rekordhalter aus Suurhusen (5,19), sondern vor allem auch den berühmten Turm im italienischen Pisa – und das um Längen (3,97). Als Lohn gab es neben dem Eintrag ins Buch des deutschen Rekord-Instituts eben auch ein enormes Medienecho, das selbst den Initiator des Rekordeintrags überraschte. Bei Erwin Gottschlich geben sich seitdem die Journalisten die Klinke in die Hand. Dabei hat der frühere Ortsbeigeordnete seinen Blick längst schon wieder auf neue Ziele gelegt. Der Hype rund um den Turm soll schließlich nicht ungenutzt bleiben.
Die Leute kommen jetzt. Es liegt jetzt an uns, diese Menschen auch über den Turm hinaus zu begeistern.
Erwin Gottschlich
Wie groß das Interesse der Öffentlichkeit ist, kann Gottschlich ganz leicht bemessen. 250 Flyer hat er vor einigen Tagen am Turm ausgelegt, fast alle sind vergriffen. Zudem fallen auch die Passanten auf, die anhalten, um ein Bild vom berühmten Turm zu machen. „Die Leute kommen jetzt. Es liegt jetzt an uns, diese Menschen auch über den Turm hinaus zu begeistern“, erklärt Gottschlich. Auf die Möglichkeiten angesprochen, den Rekord auch für einen Tourismus-Aufschwung zu nutzen, läuft Gottschlich erst richtig warm. Auch er hat schließlich die Tausenden Bilder vor Augen, die Besucher seit jeher mit dem Turm in Pisa machen und machten. Natürlich wäre es utopisch, von Gau-Weinheim als einem ähnlichen touristischen Hotspot auszugehen.
Der schiefste Turm der Welt steht seit Sonntag offiziell in Rheinland-Pfalz. Durch die Neigung von 5,4277 Grad geht der Rekord an die Gemeinde Gau-Weinheim im Landkreis Alzey-Worms. Zur Bestätigung des Rekords wurde die Urkunde am Sonntag beim „Tag des offenen Denkmals“ vom Rekord-Institut ...Jetzt ist es offiziell: Der schiefste Turm der Welt steht in Rheinland-Pfalz
An Ideen, das Maximum aus den örtlichen Gegebenheiten herauszuholen, mangelt es jedoch keineswegs. Das geht beim Turm los, endet dort aber noch lange nicht. Dass es eine Nachfrage für kleine Andenken gibt, ist indes bereits deutlich geworden. Die Flonheimer Goldschmiedin Sabine Armbrüster hatte zum Anlass des Rekordes Anhänger angefertigt, auf denen der schiefe Bau zu sehen ist. Trotz des stattlichen Preises von knapp 100 Euro – von denen ein Teil auch an die Ortsgemeinde geht – gingen bereits zehn davon über die Ladentheke. „Sie wird den Anhänger jetzt auch in ihr offizielles Sortiment aufnehmen“, erklärt Gottschlich. Der Turm soll also zur Marke werden. Ein Logo gibt es bereits, eine Internetseite ebenso. Kreisverwaltung und Verbandsgemeinde haben zudem ihre Hilfe signalisiert, die Vorhaben der Gau-Weinheimer zu unterstützen. Eine Sache, die Gottschlich dabei besonders am Herzen liegt: Autobahnschilder, die an den jeweils passenden Ausfahrten der A 63 und A 61 auf den Turm hinweisen.
Zum Anfang vielleicht auch erst einmal einen Weinautomaten, den man in der Nähe des Turms aufstellen könnte.
Erwin Gottschlich.
Doch was nützen all diese Schritte, wenn die darauffolgenden Maßnahmen ausbleiben? Touristen bringen Gau-Weinheim schließlich nur dann einen echten Mehrwert, wenn sie auch über das tolle Bild am schiefsten Turm der Welt hinaus im Ort verweilen können. Ansonsten hätte die Gemeinde höchstens mehr Verkehr in den Straßen, aber würde eben nicht profitieren. „Das ist natürlich klar. Der Boden ist hoffentlich bald bereitet – und dann wären andere Leute am Zug“, so Gottschlich. Damit meint er etwa die vielen Winzer im Ort. Es bräuchte Gelegenheiten, wo Touristen einkehren könnten. Straußwirtschaften, Hofläden beispielsweise. „Zum Anfang vielleicht auch erst einmal einen Weinautomaten, den man in der Nähe des Turms aufstellen könnte“, meint Erwin Gottschlich.
Auch baut der Initiator des Rekordes darauf, die umliegenden Touristenrouten besser einzubinden – oder umgekehrt: darin eingebunden zu werden. Etwa den Wissberg, an dessen Fuß die kleine Gemeinde liegt. „Und den man von hier aus am besten in Augenschein nehmen kann“, erklärt Gottschlich. Einen – zugegeben etwas kräftigeren – Steinwurf vom Turm entfernt, neben dem Friedhof der Gemeinde, öffnet sich tatsächlich ein großartiger Panoramablick auf den Berg, inklusive der Kreuzkapelle. Ein weiterer Aspekt, den es touristisch auszunutzen gilt.
Chance erkannt
Auf dem Rundgang mit Erwin Gottschlich wird schnell deutlich, wie viel Arbeit der Ruheständler in sein Projekt steckt und gesteckt hat. Mit dem Eintrag beim Deutschen Rekord-Institut ist dieses eben auch längst nicht beendet. Das Ziel ist nicht mehr und nicht weniger als die touristische Erschließung Gau-Weinheims. Eine Chance, die Gottschlich und viele Helfer und Unterstützer in der Gemeinde erkannt haben. Noch werden die Gäste, die sich am Turm mit den ausliegenden Flyern eingedeckt haben, lediglich an die weiteren sehenswerten Plätze im Ort weitergeleitet.
Etwa ein Renaissance-Portal einer ehemaligen Bäckerei aus dem 16. Jahrhundert oder einem spätgotischen Torbogen. Nette Ergänzungen zum nun berühmten Turm, der seinen Ursprung als Wehrturm ebenfalls bereits im Mittelalter hat. Was hingegen fehlt, sind Tipps für eine leckere Stärkung, einen besonderen Wein oder die besten Wanderwege. Ein Versäumnis, das die Gemeinde schnell aufholen sollte. Denn das große, öffentliche Interesse neigt sich bekanntlich auch schnell wieder dem Ende zu.