Fast 60 Jahre ist Thea Orthey nicht mehr im Europahaus Bad Marienberg gewesen. Und doch scheint die Zeit für einen Moment stillzustehen. Noch immer atmet die alte Landratsvilla den Geist der 1960er-Jahre, als sie hier als junge Sekretärin gearbeitet hat. Die Holzdielen, die unter ihren Füßen knarzen. Der Balkon mit Blick in den Westerwald. Der Schreibtisch. Das Büro ihres alten Chefs. „Erinnerungen, die längst verschüttet waren, sind plötzlich wieder präsent“, sagt Thea Orthey. Bis in die Nacht hat sie hier oft Briefe getippt. Immer dann, wenn Adolf Kanter zum Diktat rief. Damals konnte sie nicht ahnen, dass sich hinter dem Biedermann ein Brandstifter verbarg. Die Dossiers des DDR-Spions „Fichtel“ mit hochbrisanten Informationen an Ost-Berlin werden später die Bonner Republik in ihren Grundfesten erschüttern.
Ausgerechnet Kanter. Da muss die Westerwälderin kurz lachen. Thea Orthey sieht ihren Ex-Chef immer noch vor sich. „Seine etwas füllige Figur, sein schütteres, rötliches Haar, sein stets gerötetes Gesicht“, erinnert sie sich. Kein Chef, von dem junge Frauen träumen. Das Bild, das sie von Kanter zeichnet, ist auch ansonsten alles andere als schmeichelhaft. „Seine weißen, fleischigen Hände mit kleinen Sprenkeln rötlicher Haare und dem breiten Goldring mit rotem Stein ruhten immer gefaltet auf der Schreibunterlage.“ Und doch ist der Direktor des Europahauses im Westerwald ein notorischer Schürzenjäger. „Kanter kannte keine Moral“, betont seine frühere Sekretärin. Das weiß sie schon damals. Denn der große Europäer führt heimlich eine schwarze Kasse. Auf das Konto des Vereins „Europäische Vereinigung für gegenseitigen Meinungsaustausch“ fließen Spenden aus der Industrie.
Bad Marienberg ist der Probelauf für den Flick-Bestechungsskandal
„Das Kassenbuch lag auf meinem Schreibtisch“, erinnert sich Thea Orthey, die seitenweise Bettelbriefe an Unternehmen schreiben muss. Und nicht an irgendwelche. Angepumpt wird nur die erste Liga unter den Konzernen. Der Geschäftsführer der Auto Union etwa. Sogar Daimler-Vorstand Hanns Martin Schleyer erhält ein Schreiben. Diktatzeichen „Aka/Ei“. Thea Orthey erinnert sich genau. „Den Brief an Schleyer habe ich geschrieben.“ Mit Erfolg. Denn die deutsche Großindustrie lässt sich für die europäische Sache nicht lumpen. Zehntausende Mark sammelt Kanter so ein. Am Europahaus vorbei. Quasi zur besonderen Verwendung. Die genaue Summe kennt sie nicht. „Aber es war nicht wenig“, sagt sie. „Ich habe ja die Kontoauszüge gesehen.“ Was mit dem vielen Geld geschieht, ahnt sie damals schon. „Kanter hat schon auf großem Fuß gelebt.“
Aber wie kommt ein Mann aus der tiefsten Provinz überhaupt an Kontakte in die allerhöchsten Kreise? Thea Orthey erinnert sich gern an den Mann, der hinter den Kulissen die Strippen zieht. Eberhard von Brauchitsch. „Er war ein sehr angenehmer Mensch“, sagt sie. Charmant und weltläufig. So ganz anders als der spießige Kanter. Vor allem verfügt der Flick-Manager über jede Menge Vitamin B. „ Und Kanter wiederum verstand es, die Menschen für sich einzunehmen“, sagt die frühere Sekretärin.
Von Brauchitsch und Kanter werden zum Dream-Team. Zusammen entwickeln die Männerfreunde ein Erfolgsmodell, das 20 Jahre später im Korruptionssumpf des Flick-Skandals enden wird. Denn sie stecken die Spenden nicht nur in die eigenen Taschen. Auch die politische Landschaft wird bereits ausgiebig gepflegt. „In Bad Marienberg sind die Methoden erfunden worden“, betont Ex-„Spiegel“-Redakteur Dirk Koch, der den Flick-Skandal in den 1980er-Jahren mit aufgedeckt hat. „Es war praktisch der Probelauf.“
Der frühere Leiter des Bonner Hauptstadtbüros hat bei den Recherchen zu seinem Buch „Der Schützling“ über Adolf Kanter herausgefunden, dass vor allem der junge Helmut Kohl von Zuwendungen profitiert hat. Der „Bimbes“ fließt reichlich. „Es war kein Kleingeld, es waren stattliche Beträge, mit denen das Duo Kanter/Brauchitsch dem CDU-Nachwuchsstar den Weg nach oben ebnete“, sagt Koch. Es wird eine Seilschaft fürs Leben, die sich für Kanter auszahlen wird. Und politischen Sprengstoff birgt.
Denn Kanter ist ein wahrer Meister der Täuschung. Der Andernacher hat seine Lehrzeit im Zweiten Weltkrieg bei den „Brandenburgern“ absolviert. „Diese Spezialeinheit operierte hinter den feindlichen Linien“, erklärt Dirk Koch. „Sie waren eine Art Geheimdienst der Wehrmacht.“ Kanter ist skrupellos, geltungssüchtig – und durch und durch korrupt. Ein Mann, von dem trotz seiner exponierten Stellung fast keine Fotos existieren. Aus gutem Grund.
Denn schon seit Anfang der 1950er-Jahre wird der Andernacher als DDR-Spion geführt. Und er wird es 40 Jahre bleiben. Günther Guillaume, dessen Enttarnung 1974 zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt führen wird, stellt Kanter weit in den Schatten, wie Dirk Koch recherchiert hat: „Guillaume hat von 1969 bis 1974 nur 45 Berichte nach Ost-Berlin geschickt“, sagt der Buchautor. „Kanters Akte bei der Stasi füllte 36 Ordner mit mehr als 14.000 Blatt.“
Die Dossiers von „IM Fichtel“ bieten der DDR Erpressungsmaterial vom Allerfeinsten. „Die Stasi konnte so in die faulen Eingeweide der Bundesrepublik schauen“, betont Koch. Später wird sich die Regierung mit Milliardenkrediten an den maroden Systemfeind freikaufen. Vor allem der chronische Kommunistenhasser Franz-Josef Strauß wird sich für die bankrotte DDR einsetzen. „Er hat die Pfötchen besonders weit aufgehalten“, erklärt Koch den Sinneswandel.
Dabei liegt Kanters Karriere eigentlich bereits 1967 in Trümmern. Bei einer Prüfung des Bundesrechnungshofs fliegen seine schwarzen Kassen auf. Der Direktor des Europahauses wird hochkant gefeuert. Auch seine moralischen Verfehlungen werden ihm zum Verhängnis. „Das Europahaus war als Puff verschrien“, hat Koch aus Gesprächen mit Zeitzeugen erfahren. Da ist die Rede von Orgien im Schaumbad neben Kanters Büro. Ein Riesenskandal im erzkonservativen Westerwald, der Kanter kalt gestellt haben müsste.
Der geschasste Direktor gerät in Panik. Zu Recht. Zumal auf den Fall ein besonders scharfer Staatsanwalt angesetzt wird. Thea Orthey, die damals schon seit zwei Jahren nicht mehr im Europahaus arbeitet, erinnert sich an einen Besuch auf Kanters Landsitz in Urbar bei Koblenz. Es ist das letzte Mal, dass sie ihn persönlich trifft. Der Birkenhof liegt tief versteckt im Mallendarer Bachtal. Ein stattliches Anwesen mit Pferdeweiden und Fischteichen. Geld hat er offenbar noch. Aber jetzt ist der Vorsitzende des Urbarer Kaninchenzüchtervereins in Sorge. „Er wollte von mir wissen, was ich aussagen würde, falls ich im Prozess vorgeladen werde“, sagt sie.
Die Wahrheit. Doch dazu wird es nie kommen. Irgendwie seltsam, dass eine derart wichtige Zeugin nicht befragt wird, findet Koch. Noch merkwürdiger ist für den Autor, dass Kanter 1972 trotz des erdrückenden Belastungsmaterials gegen ihn freigesprochen wird. Koch forscht nach. Und er stößt auf einen mächtigen Verbündeten Kanters. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl hat den Staatsanwalt über seinen Justizminister austauschen lassen. „Das ist ein einmaliger Vorgang in der deutschen Justizgeschichte“, erklärt Koch, der dafür nur eine Erklärung hat: Kanter weiß zu viel.
Auch sonst fällt er weich. Denn die Stasi gewährt ihrem Topspitzel eine großzügige Zwischenfinanzierung. Und auch der alte Duzfreund von Brauchitsch bietet Kanter einen lukrativen Posten an. Beim Großkonzern Flick wird das Duo das Spendenmodell aus Bad Marienberger Zeiten im ganz großen Stil aufziehen. Jetzt wird die ganze Politik geschmiert. „Unter Einsatz von 26 Millionen D-Mark an Gleitmitteln setzte der Flick-Konzern eine Steuerbefreiung durch“, hat Koch herausgefunden. „Die ersten Akten wurden mir im Parkhaus unter der Kölner Domplatte zugesteckt“, erinnert sich Koch. Quer durch alle Parteien halten sie ganz weit die Hände auf.
Kohl und Strauß stehen ganz oben auf den Bestechungslisten. Aber auch Walter Scheel, der sich immer gern als moralische Instanz aufspielt. „Das war einer schlimmsten von allen“, sagt Koch. 1984 wird der DDR-Agent Kanter dem früheren Staatsoberhaupt sogar den „Mérite Européen in Gold“ überreichen. Ein Treppenwitz der Geschichte. Aber die gesamte politische Elite in Bonn ist korrupt. Wer wüsste das besser als der oberste politische Landschaftspfleger Eberhard von Brauchitsch. Was er hingegen nicht ahnt: Sein Kompagnon schickt das kompromittierende Material nach Ost-Berlin. Dort müssen die Rotkäppchen-Sektkorken nur so geknallt haben.
Als “IM Fichtel„ beliefert Kanter die DDR mit Informationen
Als die Bombe hochgeht, bleibt Kanter im Hintergrund. „Ich habe ihn damals selbst nie wahrgenommen“, räumt Koch ein. Auch deshalb, weil Kanter nicht im U-Ausschuss erscheinen muss. Schon wieder ein merkwürdiger Zufall. „IM Fichtel“ kann weiter unbehelligt Geheimnisse an die Stasi durchstecken. Dabei gelingt es Kanter sogar, sein Haus in Hangelar bei Bonn an Egon Bahr zu vermieten, der die Ostpolitik von Willy Brandt maßgeblich mitgestaltet. „Der Stasi ist es gelungen, die Wohnung komplett zu verwanzen“, weiß Koch. Ein unfassbarer Coup. „Alle weltpolitischen Vorgänge im Haus wurden abgehört.“ Wandel durch Annäherung: Bahr kann nicht ahnen, wie nah ihm die DDR gekommen ist.
Kanter sei Dank. Bahr ist schon der zweite deutschlandpolitische Weichensteller, den Kanter auf dem Silbertablett nach Ost-Berlin serviert. In seiner Bad Marienberger Zeit hat er engen Kontakt zu Walter Hallstein, dessen Doktrin die Außenpolitik der jungen Bundesrepublik maßgeblich mitbestimmt. Im Europahaus geht der Außenstaatssekretär ein und aus. „Einmal ist er gegen eine Glastür gerannt“, erinnert sich Thea Orthey an einen kuriosen Zwischenfall. „Er geriet ins Taumeln und konnte noch gerade so aufgefangen werden.“ Für die Stasi dürfte indes weitaus interessanter gewesen sein, was er als Kommissionspräsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft so zu sagen hat. Zwei Volltreffer für Ost-Berlin. Gut, dass ihr Maulwurf den Flick-Skandal weitgehend unbeschadet übersteht. Und nicht nur das. Seinen alten „Bimbes“-Spezi aus Rheinland-Pfalz hat die geistig-moralische Wende sogar bis ins Bonner Kanzleramt gespült.
So ist es, dass wir – hoffentlich – den einzigen Kanzler hatten, der sich von einem Stasi-Agenten finanzieren ließ.
Buchautor Dirk Koch über Helmut Kohl
Adolf Kanter sitzt jetzt direkt an der Quelle. Und der Schattenmann liefert weiter fleißig ab. Bis auch die westdeutschen Spionageabwehr mal einen Erfolg landet. Es gelingt ihr, den Stasi-Agenten Werner Krüger zu enttarnen. Als „André“ am 27. September 1983 im Berliner Bahnhof Zoo in den D-Zug 246 nach Hagen steigt, wird er beschattet. Dort kauft er eine Fahrkarte nach Andernach. Um 19.07 Uhr kommt er dort an. Mehrere Männer heften sich an seine Fersen. Die Verfolgungsjagd durch die Altstadt wird zum Spionagekrimi. Krüger führt seine Observierer zu einem Mehrfamilienhaus in der Andernacher Konrad-Adenauer-Allee. Im vierten Stock verschwindet der Stasi-Agent hinter einer Wohnungstür. Und ward danach nicht mehr gesehen. Koch: „Der Name auf dem Schildchen über der Klingel: Adolf Kanter.“
Jetzt läuten bei der Spionageabwehr alle Alarmglocken. Sie sind also Kanters Verbindungsmann gefolgt. Der 58-Jährige ist enttarnt. Auch Krüger sitzt jetzt in der Falle. Eigentlich. Denn sie schnappt nicht zu. Krüger gelingt eine abenteuerliche Flucht in die DDR. Und Kanter? „Er musste zum Verhör“, hat Dirk Koch recherchiert. „Dann aber wurden überraschend die Ermittlungen gegen ihn eingestellt.“ Schon wieder. Ein wenig zu viel der Zufälle, findet Koch.
Kohls Kanzleramtsminister bremst die Ermittlungen aus
Tatsächlich findet der Autor in den Stasi-Akten eine brisante Aussage von Klaus Kuron, der damals beim Bundesverfassungsschutz für DDR-Spionageabwehr zuständig ist. Demnach sind die Untersuchungen „auf höhere Weisung“ gestoppt worden. Kuron, der selbst ein DDR-Spitzel ist, meldet seinem Führungsoffizier in Ost-Berlin, dass die Ermittlungen gegen Kanter „aufgrund einer direkten, persönlichen Intervention“ des Staatsministers im Bundeskanzleramt, Philipp Jenninger, ausgebremst worden sind. „Naturschutzpark Kanzleramt“ wird Eberhard von Brauchitsch später in seinen Memoiren witzeln.
Kuron fliegt nach der Wende auf und wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Eine harte Strafe. Umso verwunderlicher, dass Kanter 1995 vor dem Oberlandesgericht in Koblenz mit lächerlichen zwei Jahren auf Bewährung davonkommt. Ein mehr als mildes Urteil für einen Mann, der so viel auf dem Kerbholz hat. Und noch etwas macht Koch stutzig: „Der Prozess fand weitgehend hinter verschlossenen Türen statt.“
Hat also wieder jemand seine schützende Hand über Kanter gehalten? Womöglich aus dem Kanzleramt? Das wollte Koch im Zuge seiner Recherchen von dem Richter wissen, der das Urteil gefällt hat. Die Antwort ist für einen Juristen höchst verblüffend: „Er hat nicht Nein gesagt“, betont Koch. Too big to fail? Der Ex-„Spiegel“-Redakteur ist fest davon überzeugt.
Kanters schlichtes Urnengrab auf dem Friedhof in Vallendar ist so unauffällig wie sein Leben. Der Top-Spion der DDR stirbt 2004 an den Folgen eines Treppensturzes. Was hat ihn angetrieben? Dirk Koch hat Licht ins Dunkel gebracht. Manche Geheimnisse hat Adolf Kanter allerdings mit ins Grab genommen.
“Der Schützling"
Dirk Koch hat als „Spiegel“-Redakteur den Flick-Skandal mit aufgedeckt. Bei seinen Recherchen zu seinem Buch „Der Schützling“ stößt er auf einen Mann, der so viel wusste, dass Helmut Kohl immer wieder seine schützende Hand über ihn hielt. Dietz-Verlag, 24 Euro.