Unser Chefredakteur appelliert an die Türken in Deutschland: Stimmen Sie beim Referendum mit Hayir! (Nein)
Liebe türkische Mitbürger,
ich schreibe Ihnen heute im Namen dieser Zeitung, aber auch im Sinne vieler Deutscher. Wir haben in den vergangenen Wochen viel über Ihr schönes Land, über das Verhältnis unserer Nationen und über Sie als unsere Mitbürger gesprochen, oft auch über Ihren Präsidenten und seine Partei. Stets bewegte uns dabei die Sorge um unser Zusammenleben, um die Beziehung unserer Staaten, um den Weg der Türkei und Ihrer Nation.
Sie gehören zu den 1,5 Millionen Menschen mit einem türkischen Pass, die sich entschlossen haben, in Deutschland leben zu wollen – oder in diesem Land, in dem Sie geboren worden sind, zu bleiben. Von Montag an können Sie an der Abstimmung über eine neue Verfassung in der Türkei teilnehmen. Sie haben damit eine große Verantwortung.
Uns Deutschen liegt es fern, Sie belehren zu wollen. Sie sollen aber wissen, dass wir Wünsche an Sie haben – wegen Ihres Referendums, noch mehr aber wegen unseres Zusammenlebens.
Wir wünschen uns, dass Sie Ihre Entscheidung über Ja oder Nein nicht nur mit Leidenschaft, sondern auch mit Vernunft treffen. Ich gestehe Ihnen zu: Manche Szenen und Bilder rings um die Auftritte von AKP-Politikern in EU-Ländern waren geeignet, Ihre Gefühle zu verletzen. Bitte aber haben Sie die Souveränität zu erkennen, dass Teile der AKP bewusst und gezielt dafür gesorgt haben.
Bedenken Sie auch: Unsere Regierung hat Ihrem Land erlaubt, für das Referendum Wahllokale in Deutschland einzurichten. Wir hätten das nicht gemusst – wollten Ihre Teilnahme aber nicht verhindern. Beantworten Sie sich selbst die Frage, wie der Präsident der Türkei diese Toleranz Deutschlands honoriert hat.
Noch wichtiger aber ist uns: Sorgen Sie mit Ihrer Abstimmung dafür, dass die Türkei auf dem Weg bleiben kann, den ihr Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk so weise und weitsichtig eingeschlagen hat. Ihr großes Land hat sich damals für Freiheit und Demokratie, für Aufklärung und Menschenrechte entschieden. Ihr Land hat sich seither ungleich besser entwickelt als die meisten anderen muslimisch geprägten Staaten.
Nun fordert Ihr Präsident eine Machtfülle, die kein anderer Politiker einer Demokratie weltweit hat. Faktisch würde die Demokratie in der Türkei damit zu Theater degradiert. Stimmt das türkische Volk mit Evet (Ja), kann die Türkei ab 2019 mit Dekreten eines Herrschers statt mit Gesetzen eines Parlamentes regiert werden.
Liebe türkische Mitbürger: Die Geschichte kennt kein einziges Beispiel dafür, dass so viel Machtfülle in der Hand eines Regenten gut für dessen Land gewesen ist. Es gibt aber viele Belege dafür, wie viel Unfreiheit, Leid und Rückschritt solch eine Autokratie beschert hat.
Wir wünschen uns, dass Sie gleichsam bei uns bleiben – in der Reihe der Völker, die wissen: Demokratie ist die anstrengendste aller Regierungsformen, zugleich aber der einzige nachhaltige Garant für Freiheit, Vernunft und Toleranz.
Haben Sie die Kraft, das auch in und an Deutschland zu sehen – selbst dann, wenn Sie sich hier zurückgesetzt fühlen sollten. In unserem Land gibt es die größtmögliche Freiheit des Denkens, des Redens, des Glaubens, ermöglicht durch Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, begleitet von Sicherheit und Wohlstand – wovon auch Sie profitieren.
Lassen Sie sich von niemandem einreden, Sie lebten in einem Land der Unfreiheit – so laut es auch gerufen wird, so wirkungsvoll dabei Gefühle angesprochen werden. Fragen Sie sich vielmehr, welche Freiheiten es für Andersdenkende und Andersgläubige derzeit in der Türkei gibt – und es bei noch mehr Macht für Erdogan künftig geben wird. Denken Sie nach, wägen Sie ab. Wenn Sie Freiheit für wichtiger halten als scheinbare Stärke, dann können Sie nur mit Hayir (Nein) stimmen.
Belassen Sie es aber nicht bei dieser Abstimmung. Sprechen Sie mit uns Deutschen – als Nachbarn, am Arbeitsplatz, in Elternversammlungen, beim Einkaufen. Bei aller verständlichen Pflege Ihrer Kultur und Ihres Glaubens: Suchen Sie bewusst auch den Kontakt zu uns – in Vereinen, bei bürgerschaftlichem Engagement, in der Politik. Mauern Sie sich nicht ein, beschneiden Sie das Leben Ihrer Kinder nicht, vor allem nicht das Ihrer Töchter. Akzeptieren Sie, dass wir Regeln und Erwartungen für das Leben in diesem Land haben und diese gewahrt wissen wollen. Sagen Sie uns aber auch offen, was wir im Zusammenleben mit Ihnen verbessern können.
Und wenn Sie trotz allem der Meinung sind, Deutschland sei unfrei, dann sage ich Ihnen ganz offen: Wir zwingen niemanden, bei uns zu leben. Ich meine das weder zynisch noch drohend. Ich möchte Sie damit nur ermuntern, sich selbst eine zentrale Frage zu beantworten: Wenn Ihnen Deutschland fremd geblieben ist und unfrei vorkommt, in welchem Land möchten Sie dann stattdessen leben? Ich bin mir sehr sicher, dass Ihnen sehr wenige Staaten einfallen werden, die Sie Deutschland vorziehen würden. Stattdessen werden Sie viele Länder nennen können, in denen Sie nicht leben wollen. Gut möglich, dass für Sie insgeheim selbst die Türkei zu dieser Negativliste gehört – so wie sie jetzt ist und erst recht so, wie sie bei einem mehrheitlichen Evet (Ja) zu Erdogans Machtwünschen ab 2019 wäre.
Bleiben Sie bei uns. Stimmen Sie mit Hayir.
Ihr Christian Lindner
Chefredakteur