Afghanistan-Kenner sagt: Wir müssen mit den Taliban reden

Afghanistan-Experte Reinhard Erös.
Afghanistan-Experte Reinhard Erös. Foto: Privat

Für den ehemaligen Militärarzt und profilierten Afghanistan-Experten Reinhard Erös ist klar: Unsere Freiheit wird schon längst nicht mehr am Hindukusch verteidigt. Militärisch ist der Konflikt dort ohnehin nicht zu gewinnen, glaubt der Gründer der „Kinderhilfe Afghanistan“, der das Land seit Jahrzehnten kennt.

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Für den ehemaligen Militärarzt und profilierten Afghanistan-Experten Reinhard Erös ist klar: Unsere Freiheit wird schon längst nicht mehr am Hindukusch verteidigt. Militärisch ist der Konflikt dort ohnehin nicht zu gewinnen, glaubt der Gründer der „Kinderhilfe Afghanistan“, der das Land seit Jahrzehnten kennt.

Bereits während der sowjetischen Besatzung ließ er sich von der Bundeswehr unbezahlt beurlauben, um in paschtunischen Dörfern auf eigene Faust medizinische Hilfe zu leisten. Seit dem Sturz der Taliban hat er Dutzende Schulen, Waisenhäuser und Gesundheitsstationen aufgebaut, gut die Hälfte des Jahres verbringt er in Afghanistan. Im Interview macht er deutlich, welche Fehler der Westen in seinen Augen gemacht hat.

Was mittlerweile viele Beobachter sagen, predigen Sie seit mehr als zehn Jahren: Man muss mit den Taliban verhandeln. Warum kommt man an diesen Leuten nicht vorbei?

Weil sie qualitativ und quantitativ inzwischen wieder eine Bedeutung haben, in Afghanistan und in Pakistan, dass man sie einfach nicht übergehen kann. Sie sind tief verwurzelt in der paschtunischen Bevölkerung und zwar nicht deshalb, weil man ihre Positionen, ihre Politik oder ihre Personen hoch schätzt oder für unterstützenswert hält, sondern weil die Alternative einfach noch viel schlimmer ist.

Wie sieht die aus?

Das ist wie Pest und Cholera. Vielen Leuten, die politisch denken, gerade auch Jüngeren, ist klar: Die eine Möglichkeit sind die jetzigen Machthaber, die bis auf die Knochenhaut korrupt sind, die über Leichen gehen, die aus Afghanistan einen hoch kriminellen Drogenstaat machen – und die andere sind eben die Taliban. Eine dritte Möglichkeit, also was wir uns immer so gern vorstellen: Demokratie, rechtsstaatlich denkende Bürger und Zivilgesellschaft – dafür gibt es fast kein Personal. Die Wenigen, die es gibt, sind entweder völlig außen vor, spielen keine Rolle oder hauen ab, weil sie sagen: Das Land geht vor die Hunde. Dadurch haben die Religiösen inzwischen in allen gesellschaftlichen Bereichen wieder eine Bedeutung erreicht, die vor vier oder fünf Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

Hätte man mit einer anderen Strategie mehr erreichen können?

Verhandlungen mit den Taliban hätte man unmittelbar nach dem Sturz Mullah Omars viel billiger haben können. Zumindest drei Jahre lang hatte man ein Zeitfenster, als die Taliban schlicht geschlagen waren, politisch und militärisch. Damals hätte man die Bedingungen fast diktieren können. Die Arroganz von George W. Bush nach dem Motto: Wir machen euch alle fertig – dieser Kreuzzug war ein Fehler, der jetzt kaum mehr korrigiert werden kann. Die Taliban sehen sich auf der Siegerstraße, in Afghanistan auf alle Fälle, was die Unterstützung im Osten und im Süden betrifft, was die Ablehnung der Isaf-Truppen angeht inzwischen auch im Norden. Auch das Bild der Deutschen hat sich in den Augen der Paschtunen-Bevölkerung spätestens seit der Bombardierung von Kundus dramatisch verändert. Um die Taliban werden wir jedenfalls in der nächsten Regierung nicht vorbeikommen.

Was wollen die Taliban eigentlich?

Die Taliban haben eine regionale Agenda. Ihr eigenes Gebiet, ihr Paschtunistan oder was immer sie darunter verstehen, wollen sie mit ihren Aktivitäten wieder politisch in den Griff bekommen. Und dieser Konflikt wird asymmetrisch geführt. Deshalb müssen wir aufpassen, wenn wir von feigen und hinterhältigen Anschlägen sprechen. Ein Selbstmordattentat als feige zu bezeichnen, ist von der Logik her schon unsinnig. Wenn die Nato hingegen Hunderte von „Kollateralschäden“ aus der Luft produziert, war es immer ein „schreckliches Versehen“. Das ist eine Verlogenheit, die auch die Leute dort unten erkennen. Für die Aufständischen ist es meistens auch ein Versehen. Die wollen natürlich keine Kinder umbringen, deshalb warnen sie ja auch die Bevölkerung: Geht nicht zu den Ausländern.

Und welches Bild hat die Bevölkerung von den Ausländern?

Viele Afghanen glauben: Die Ausländer haben uns Krieg, Unsicherheit und Instabilität gebracht und betreiben ihr Engagement aus politischem Eigennutz. Sie glauben auf jeden Fall nicht, dass wir es um der Afghanen Willen tun, um ihr Land wieder aufzubauen. Die Mächtigen und Reichen sind natürlich begeisterte Anhänger einer weiteren Präsenz des Westens, nicht weil sie uns schätzen und mögen, sondern weil sie davon profitieren. Wir sind ihre „dummen Gönner“, die ihnen das Geld in alle Taschen stecken. Da gehen Koffer voller Dollars von Kabul nach Dubai durch Geschäfte oder direkte Korruption. Auch der Drogenanbau funktioniert nur mit duldender Unterstützung des Westens. Wir müssen uns klarmachen, dass ein Großteil der militanten Aktivitäten nicht immer etwas mit religiös Verrückten zu tun hat, sondern oft auch einen kriminellen Hintergrund hat. Kriminelle Geschäfte gedeihen in Kriegszeiten eben besonders gut.

Was ist da falsch gelaufen?

Man hätte sich nach 2001 Zeit nehmen können. Kein Afghane wollte die Taliban wiederhaben. Die Afghanen haben ja am eigenen Leib erlebt, was die von Saudi-Arabien finanzierten religiösen Irren in den Jahren zuvor angerichtet hatten. Das Wichtigste wäre schon damals gewesen, eine gute Polizei auszubilden. Doch da ist lange zu wenig passiert. Die deutsche Polizeiausbildung für Afghanistan war von Anfang an ein Witz. Die rot-grüne Regierung hatte ja 2001 bei der Petersberg-Konferenz Deutschland als „lead-nation“ bei der Polizeiausbildung erklärt. Wir hätten damals 700 oder 800 deutsche Ausbilder benötigt. Doch statt 800 waren es klägliche 30 oder 40 Ausbilder. Am Anfang waren es noch gute Leute, später nicht mehr immer – also viel zu wenige und teilweise auch die falschen Leute. Das war ein tot geborenes Kind. Gerade uns Deutschen vertrauen die Afghanen.

Wir hatten in den vergangenen 60 Jahren das Land uneigennützig aufgebaut: Die afghanische Polizei wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von deutschen Polizeibeamten trainiert, ganze Provinzen wieder aufgeforstet, Wasserkraftwerke gebaut, Medizinische Fakultäten eingerichtet, die Lehrerausbildung modernisiert und vieles mehr. Diese hohe Akzeptanz hätten wir nach dem Sturz der Taliban ausnutzen sollen, statt unser Licht unter den Scheffel zu stellen. Unsere politische Dummheit hat viel Geld und Blut gekostet. Afghanistan könnte schon heute ein friedlicher, prosperierender Staat sein. Stattdessen sind wir blind der verfehlten Machtpolitik eines Georg W. Bush hinterhergelaufen.

Ist das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung auf Dauer verspielt?

Es wird eine neue politische Generation geben. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind heute jünger als 15 Jahre ...

Und hat diese Generation noch Vertrauen in den Westen?

„Noch ist Polen nicht verloren.“ Wir müssen wir uns jetzt um die Jugend kümmern. Konzentrieren wir uns darauf, dass jedes afghanische Kind eine gute Schul- und Berufsausbildung bekommt, dass jeder junge Mann und jede Frau einen Beruf ausüben, Geld verdienen und eine Familie gründen kann. Statistisch hat derzeit jede Familie mehr als sieben Kinder. Man müsste deshalb alle acht Jahre die Anzahl der Schulen und Lehrer verdoppeln, allein um den status quo zu halten. Davon sind wir weit weg. Wenn das so bleibt, sind wir in zehn Jahren wieder bei den Zahlen der Taliban: 20 Prozent der Jungen und vielleicht 3 Prozent der Mädchen gehen zur Schule. Und was sollen all die ungebildeten jungen Leute später machen? Entweder sich den Gangstern anschließen, oder denen, die ihnen große, aber falsche Hoffnungen machen, also den Religiösen. Der Ansatz, mit militärischer Gewalt politische Feinde zu bekämpfen, und nicht auf die Ursachen zu schauen, ist grundfalsch.

Was also sind jetzt die Optionen: Geldhahn zu, Militär raus?

Militärisch auf jeden Fall raus. Die Anwesenheit des westlichen Militärs ist kontraproduktiv, weil die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit die westlichen Soldaten inzwischen mindestens als Besatzungsmächte, wenn nicht als echte Feinde empfindet. Wenn wir jetzt nicht erkennen, was wir falsch gemacht haben, und diesen Weg trotzdem durchziehen, wird die Lage weiter eskalieren – das tut sie ja bereits. Die Afghanen brauchen auch nicht mehr Geld, um ihr Land aufzubauen: 90 Prozent der Gelder, die wir hingegeben haben, sind in die Taschen korrupter Politiker und Beamter gewandert. Und da sind wir wieder: Die derzeit Mächtigen sind korrupt, die Opposition sind religiöse Irre – Pest und Cholera. Deshalb müssen wir jetzt in jeder Hinsicht auf die Jugend setzen.

Dabei dürfen wir Deutsche uns nicht auf den Norden konzentrieren, wo Entwicklungsminister Niebel jetzt einsteigt, während es in den Paschtunengebieten des Ostens und Südens weiter bergab geht und das Geld vorwiegend mit Rauschgift, Schmuggel und einer unvorstellbare Entführungsindustrie verdient wird. Also nicht einfach mehr Geld, sondern besser eingesetzt. Weniger Soldaten, dafür praktische wirtschaftliche Aufbauhilfe – am besten durch private Unternehmen und nicht allein durch den Staat. Deutschlands Wiederaufstieg nach 1945 kann ein großartiges Beispiel sein.

Das Gespräch führte unser Redakteur Carsten Luther