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Nahles-Wahl: Rheinland-pfälzische SPD reagiert ratlos und überrascht

Von Gisela Kirschstein
Parteichefin
Glück sieht anders aus: Andrea Nahles musste bei ihrer Wahl zur ersten SPD-Chefin eine Schlappe hinnehmen - sie erhielt nur 66,3 Prozent Zustimmung. Foto: Boris Roessler

Die Gesichter sprachen von Überraschung und einer gewissen Ratlosigkeit. „Wir sind im Augenblick mit vielen Fragezeichen im Kopf unterwegs“, sagte Roger Lewentz, SPD-Parteichef in Rheinland-Pfalz: „Das Ergebnis spiegelt die Verunsicherung der Mitglieder.“ Wenige Minuten zuvor war die Rheinland-Pfälzerin Andrea Nahles zur ersten Parteichefin in der Geschichte der Sozialdemokraten gewählt worden – mit nur 66,35 Prozent. Es sollte eigentlich ein stolzer Moment für die rheinland-pfälzische SPD werden. Die erste Frau an der Spitze der Sozialdemokratie sei „etwas Historisches“, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) strahlend: „Dass es ausgerechnet eine Rheinland-Pfälzerin ist, das macht uns unglaublich stolz.“

Lesezeit: 2 Minuten
Der Parteitag schien genau so zu laufen, wie die Parteispitze gehofft hatte. Mit einer kämpferischen Rede, rhetorisch stark und mit der gewohnten Lautstärke brachte Nahles den Saal binnen Sekunden auf Betriebstemperatur. Ihre Herausfordererin Simone Lange präsentierte sich dagegen schwach. Auch der Applaus: ausgesprochen schwach. Die Stimmung im Saal schien gegen ...
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Nahles führt eine tief zerrissene Partei

Wiesbaden. Das Wort „Vorsitzende“ spricht Andrea Nahles aus, als habe es fünf „e“ am Ende. Sie ist die erste Frau an der Spitze der SPD, in 155 Jahren. Mit einer kämpferischen Rede überzeugt sie nach einem turbulenten und krisenhaften Jahr die knapp 600 Delegierten beim Parteitag in Wiesbaden nur mit einem schwachen Ergebnis – 66 Prozent. Selbst als Generalsekretärin hatte sie bessere Ergebnisse. Ihre Gegnerin Simone Lange bekommt trotz einer überraschend schwachen Rede auch ein knappes Drittel der Stimmen. Bei der Verkündung des Ergebnisses herrscht Grabesstille, dann verhaltener Applaus. Die Sozialdemokraten sind erschrocken über sich selbst, dass sie ihre neue Parteichefin mit einem so schwachen Ergebnis ausstatten, obwohl so große Aufgaben vor ihr liegen.

Ihre Bewerbungsrede ist nicht der Grund für das schwache Ergebnis: Nahles beginnt persönlich, stellt sich als katholisches Arbeiterkind aus der Eifel vor, wo sie als Sozialdemokratin ein Sonderling war. Sie begrüßt ihre Mutter Gertrud mit „Hallo Mama“. Dann dekliniert Nahles ihr politisches Programm mit dem Begriff der Solidarität und spricht auch in Abwandlung von Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft von „solidarischer Marktwirtschaft“. Dazu zählen für sie eine ordentliche Besteuerung von Internetunternehmen, mehr tarifgebundene Jobs und ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt. Zur SPD-Dauerdebatte um Hartz IV ruft sie leidenschaftlich in den Saal: „Lasst uns die Diskussion mit Blick auf 2020 führen, nicht auf 2010.“ Mehrfach macht sie in ihrer Rede auch ihre emotionale Bindung an die SPD deutlich und erklärt, den SPD-Ortsverein in ihrem Dorf in der Eifel habe sie vor 30 Jahren mit Freunden gegründet, um die Demokratie zu stärken. Mit einem „Wir packen das“ beendet sie ihren Auftritt.

Es ist eine zerrissene Partei, an deren Spitze Nahles jetzt steht. Die Nervosität im RheinMain KongressCenter in Wiesbaden ist enorm. Bei der Einlasskontrolle wird ein Delegierter mit einem großen Transparent erwischt, das er offenbar im Saal während des Parteitags entrollen will. „Mehr Demokratie wagen“ steht darauf. Das ist ein Zitat von Willy Brandt. Damit müsste man beim SPD-Parteitag also Einlass bekommen. Das Material sei aber brennbar, wendet die Sicherheit ein.

Beim Einlass überlässt die Parteiorganisation nichts dem Zufall. Ansonsten aber ist es ein Parteitag der Unwägbarkeiten. Vor Beginn sind nur wenige Delegierte sicher, dass Nahles ein gutes Ergebnis bekommen würde. Unter 70 Prozent seien durchaus möglich und eine Katastrophe, sagt ein Delegierter. Die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange macht geschickt für sich Werbung. Sie bedient die Stimmung in der Partei, dass die Funktionärsschicht nicht immer alles bestimmen solle. Otto Schmallenberg aus Schleswig-Holstein läuft mit einem Schild herum: „Sei dabei. Schreib Geschichte, Wähl Simone Lange.“ Über Nahles sagt er: „Alte Garde, Funktionärsschicht, intrigant.“ Nein, eine Versöhnung könne es nicht geben, sagt Schmallenberg.

Im Saal brodelt es, bevor das Duell der ungleichen Kandidatinnen beginnt. Im Vorfeld gab es viel Streit, wie sich die Kontrahentinnen präsentieren. Am Ende einigte man sich darauf, dass nach dem Alphabet erst Lange, dann Nahles redet, jeweils 30 Minuten. Die Redezeit, um die Lange so hart gekämpft hatte, nutzt sie vor den Delegierten nicht aus. Nach knapp 20 Minuten endet sie. Lange kritisiert, dass es der SPD an Transparenz, an Offenheit und an Glaubwürdigkeit fehlt. „Ich bin heute eure Alternative.“ Inhaltlich ist sie dünn. Erst in der Fragrunde, vielleicht aufgeweckt von Nahles' starker Rede, dreht sie auf, fordert lautstark die „Rückabwicklung von Hartz IV“. Der Frage, ob sie denn als Flensburger Oberbürgermeisterin zurücktritt, wenn sie zur Vorsitzenden gewählt würde, weicht sie aus.

Nahles kündigt an, die Erneuerung jetzt voranzutreiben. Sie werde beweisen, dass das trotz der Regierungsbeteiligung möglich ist. Martin Schulz, der gescheiterte Kanzlerkandidat, gibt ihr recht. „Das geht“, sagt er am Rand des Parteitags. Wunden müssten bei diesem Parteitag nicht heilen, er sei ohne Groll gegangen. Und wer wird als Nächstes für die SPD ins Rennen um das Kanzleramt gehen? Hat Nahles nun – wie es bisher immer dem Parteichef zustand – das erste Zugriffsrecht? Eine Delegierte aus NRW meint, sie gehe fest davon aus, dass die Kanzlerkandidatenfrage zwischen Andrea Nahles und Olaf Scholz bereits geregelt sei. „Das haben die sicher schon besprochen und geklärt“, sagt sie.

Aus Wiesbaden berichten unsere Korrespondenten Eva Quadbeck und Jan Drebes

Dreyer: Nahles denkt die Dinge neu

Im Interview mit der Rhein-Zeitung äußert sich die rheinland-pfälzische Ministerpräsidenten zum schlechten Wahlergebnis für Andrea Nahles. Als erste Frau wird sie die Partei anführen.

Warum hat Andrea Nahles einen so deutlichen Dämpfer bekommen? Anders als sonst hatten wir diesmal die Wahl zwischen zwei Kandidatinnen. Da kann man nicht die gleichen Maßstäbe wie in der Vergangenheit anlegen. Andrea Nahles hat vor diesem Hintergrund ein klares, gutes Ergebnis bekommen.

Es ist das zweitschlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte. Gibt das genug Rückenwind?

Würden wir in der SPD so auszählen wie in der CDU, wo ungültige Stimmen und Enthaltungen nicht mitgerechnet werden, würde kein Mensch von einem schlechten Ergebnis sprechen. Ich bin überzeugt, dass Andrea Nahles genug Rückenwind hat. Auf dieser Grundlage kann sie sehr gut arbeiten.

Wie kann Andrea Nahles für Aufbruch stehen, wenn sie kein neues Gesicht in der Partei ist?

Es ist ein großer Trugschluss, dass Aufbruch ein unbekanntes Gesicht voraussetzt. Wir haben eine neue Parteivorsitzende, und ihre sehr programmatische Rede hat gezeigt, dass sie viele Ideen für die Zukunft hat. Sie hat die Delegierten des Parteitags erreicht, mit dem Herzen und dem Verstand. Deswegen hätte ich mit einem besseren Ergebnis für sie gerechnet. Andrea Nahles hat die Offenheit, Dinge völlig neu zu denken. Darin liegt eine große Chance für die SPD.

Ist eine Ampel wie in Rheinland-Pfalz ein Modell für den Bund?

Die SPD muss auch künftig zuerst für die eigene Stärke kämpfen. Aber wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen wir von vornherein irgendein Bündnis ausschließen sollten, außer eines mit der AfD. Insofern ist klar, sich auch im Bund Regierungsoptionen mit der FDP offenzuhalten.

Das Gespräch führten Jan Drebes und Holger Möhle

Kommentar: SPD muss das Hase-Igel-Spiel gewinnen!

Die SPD muss das Hase-Igel-Spiel gewinnen, sagt unser Redakteur Christian Kunst in seinem Kommentar.

Zwischen der SPD und Angela Merkels CDU läuft seit Jahren der Wettstreit von Hase und Igel. Reklamieren die Sozialdemokraten einen Sieg für sich, dann ruft die Kanzlerin gelassen: „Ich bin schon hier!“ So geht es den Genossen auch an diesem Wochenende, an dem sie nach 155 Jahren die erste Frau an die Spitze der SPD gewählt haben. Die CDU hat bereits seit 18 Jahren eine weibliche Vorsitzende, die seit 13 Jahren im Bundeskanzleramt sitzt. Und so überwiegt der Eindruck, dass die SPD nachholt, was in der konservativen CDU schon seit Jahren Realität ist. Hinzu kommt, dass Merkel die Union – gegen große Widerstände – inhaltlich und zuletzt sogar personell erneuert hat.

Doch nicht nur Merkels CDU lässt die alte Tante SPD seit Jahren alt aussehen – die Sozialdemokraten selbst haben ein sicheres Händchen dafür, sich die guten Nachrichten kaputtzumachen. Am Ende der für sie eigentlich sehr erfolgreichen Koalitionsverhandlungen gelang ihnen dies durch eine irrsinnige Personal- und Postendebatte. Beim Parteitag verpassten sie ihrer neuen Vorsitzenden einen so starken Dämpfer, dass die ohnehin gewaltige Aufgabe Erneuerung der Partei für die Eiflerin mit einem ebenso gewaltigen Misstrauensbeweis beginnt. Nahles hat sich jedoch auch selbst keinen Gefallen damit getan, indem sie Herausforderin Simone Lange in ihrer Rede völlig ignoriert hat. Das schürte das Misstrauen von Teilen der Basis, die Nahles zur Funktionärsclique zählen. Wie die Parteispitze mit Kritikern wie Lange oder Juso-Chef Kevin Kühnert umgeht, ist mit Blick auf die Erneuerung der Partei schlicht unklug. Es bestätigt jene, die der Parteispitze ein vorrangiges Interesse am Machterhalt unterstellen.

Andrea Nahles' größtes Problem ist aber, wie sie es schaffen will, die SPD in der Großen Koalition zu erneuern und zugleich ihre innerparteilichen Kritiker zu überzeugen. Die ersten Monate der neuen Regierung sprechen eher dafür, dass die Union die SPD machen lässt und die Erfolge dann für sich einstreicht. Sollte Nahles diesen Wettstreit zwischen Hase und Igel doch noch gewinnen, wäre ihre Wahl an diesem Wochenende mehr als eine Randnotiz der 155-jährigen SPD-Geschichte.

E-Mail an: christian.kunst@rhein-zeitung.net

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