„Blitz-Partys“ in London halten britische Kriegs-Nostalgie am Leben

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Zeitreise in die 1940er bei den „Blitzparty“ in London. Foto: Anya Belikova

Britische Museen kommen bisweilen auf verrückte Ideen: Den originellsten Einfall hatte der 1939 gebaute Kriegsbunker der Regierung (Cabinet War Rooms) in Westminster, der die Londoner gegen Zahlung von umgerechnet 50 Euro zu einer unheimlichen Retro-Übernachtungsparty inklusive Übernachtung im Untergrund einlud. Seit 2009 feiert man auch gerne nostalgisch-schräge „Blitz-Partys“.

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Britische Museen kommen bisweilen auf verrückte Ideen: In manchen kann man jetzt die Sammlungen nicht nur bei Tageslicht, sondern auch nachts im Schein von Taschenlampen oder Fackeln bewundern, ehe man sich unter afrikanischen Masken, Mumien, Dampfmaschinen und Dinosaurierknochen zur Nachtruhe bettet.

Den originellsten Einfall hatte der 1939 gebaute Kriegsbunker der Regierung (Cabinet War Rooms) in Westminster, der die Londoner gegen Zahlung von umgerechnet 50 Euro zu einer unheimlichen Retro-Übernachtungsparty einlud. Nach einer Runde Bingo schauten sich die Gäste in Churchills früherer Kommandozentrale alte Propagandafilme des „Ministry of Information“ an, ehe sie im Untergrund ein Abendessen „mit rationierten Lebensmitteln“ im Stil der Kriegsjahre erlebten. Am Morgen danach vertrieb eine Luftangriffssirene die müden, aber zufriedenen Kriegs-Touristen aus ihren Schlafsäcken.

„Besessene Briten“

Es ist elf Jahre her, seit Ex-Kulturstaatsminister Michael Naumann in einem Interview der „Sunday Times“ den Briten eine „Besessenheit“ mit dem Zweiten Weltkrieg bescheinigt hat. Der Krieg sei „eine geistige Quelle im Inneren des britischen Selbstverständnisses“, bemerkte scharfsinnig der Deutsche, der daraufhin in den Boulevardblättern als „unsensibel“ und „ahnungslos“ beschimpft wurde. „Anders als unsere teutonischen Vettern sind die Briten die am wenigsten militaristische Nation Europas, die eine Abneigung gegen das bombastische Schwadronieren empfindet“, empörte sich ein Kommentator. Mag sein, dafür kleiden sich die Briten auffallend gerne in historische (auch deutsche) Militäruniformen, um bei bombastischen Shows wie „Krieg und Frieden“ in Surrey in selbst ausgehobenen Gräben hinter Stacheldraht die Schießpulverromantik zu zelebrieren. Und natürlich ehren die Inselbewohner den alten „Blitz“, der im 21. Jahrhundert fest zum Alltag im Königreich gehört.

„The Blitz“…

…das waren die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf Großbritannien, die rund 43 000 Menschen töteten und eine Million Häuser in Schutt und Asche legten. Diese Bombardements liegen mehr 60 Jahre zurück, dennoch schöpfen die Briten weiter Mut und Inspiration aus dem kämpferischen Geist ihrer Vorfahren, die großen Gefahren die kalte Schulter gezeigt haben. Die englische Abkürzung von „Blitzkrieg“ ist zum Synonym für Mut, Entschlossenheit und eine besonders gründliche (sprich: deutsche) Vorgehensweise geworden. 2008 beschwor Ex-Premier Gordon Brown den „Blitz“-Geist seiner Landsleute im Kampf gegen die Rezession, der ihnen zuvor bereits bei dem Widerstand gegen die Schweinegrippe geholfen hatte. First Lady Samantha Cameron warb vor der Wahl für die Torys mit einem „media blitz“. Die englischen Behörden lieben „blitz“-Aktionen gegen Straßenmüll und betrunkene Autofahrer. Es gibt „Blitz“-Sportläden, -Clubs und Cheerleader-Gruppen in London. Und seit 2009 feiert man auch gerne nostalgisch-schräge „Blitz-Partys“.

Zeitreise

Es ist, als hätte man eine Zeitreise gemacht: Die verhängten Fenster, „Union Flags“ und brennenden Öllampen im großen Raum unter einer Eisenbahnbrücke im Osten Londons schaffen die Illusion eines Kriegsbunkers von 1940. Videoprojektoren lassen alte Kriegschroniken auf den unverputzten Ziegelsteinwänden leuchten. In der mit Sandsäcken geschützten Bar servieren Männer mit Hosenträgern und in Filzhüten Champagner, Gin und Ale, das passenderweise den Namen der legendären „Spitfire“-Jagdflugzeuge trägt. Auf der feuchtfröhlichen Kriegsparty ist der Alkohol nicht rationiert – schließlich greifen irgendwo draußen die Deutschen an, und man muss sich Mut antrinken. Der „Blitz“-Frauen-Outfit besteht aus geblümten Oma-Kleidern, Nylonstrümpfen, Locken und dick aufgetragenem Lippenstift. Die Gentlemen tragen Tweedanzüge, Matrosenhemden und mit Medaillen behangene alliierte Uniformen. “Sorry, no Germans”: Feldjacken der Wehrmacht sind für beschwingte Kriegsfans tabu.

Kleine Fluchten

Die Blitz-Feiern sind populär, weil manche Briten der tristen Realität eines mit den Folgen der Rezession kämpfenden Landes entkommen und das Gemeinschaftsgefühl der Kriegsjahre spüren möchten. Andere folgen einfach dem neuen Modetrend. “Die Leute hier wissen, wie man sich amüsiert, und sie wollen etwas Besonderes erleben”, sagt der Bunkerfest-Erfinder Mark Holdstock. Als Mark seinen Club 2009 startete, zählte er bei der ersten Party 80 Besucher. Dagegen war die Blitz-Feier zum Jubiläum des „D-Day“ Anfang Juni mit 1000 verkauften Tickets ausgebucht.

Zur Musik von Big Bands, die Swing, Jive und Charleston spielten, tanzten die Zeitreisenden fröhlich die Nacht durch, so als ob es keinen Morgen danach geben würde. „Es gibt so wenige Anlässe, um auf unsere kleine Insel stolz zu sein. Wie schön, dass es diese geheimen Abende gibt, bei denen wir uns betrinken und dabei patriotisch sein dürfen“, schrieb begeistert eine Bloggerin. Der nächste „Blitz“ ist im September geplant. Womöglich werden jedoch die Briten zur Aufmunterung eine extra Party in den kommenden Wochen brauchen, wenn sie zu schnell aus der Fußball-WM in Südafrika ausscheiden.

Von unserem Londoner Korrespondenten Alexei Makartsev