Grünbach. Ein eindrucksvolles Bild hat Helmut Müller noch ganz genau vor Augen: Sein Vater, der Gemeindelehrer, schließt die Schule ab, wirft den Schlüssel in den Garten und schießt mit seinem Gewehr dreimal in die Luft. Es war wohl eine symbolische Geste, wie um dem Dorf, das dem Untergang geweiht war, Lebewohl zu sagen. Das Kapitel Grünbach neigte sich dem Ende zu.
Als Lehrersohn hatte es Helmut Müller in dem kleinen Bauerndorf zweifellos besser als andere Kinder, das gibt er unumwunden zu. „Man war privilegiert“, sagt der 95-Jährige, der heute in einem Alterszentrum in Leichlingen lebt. „Der Lehrer war ja ein Staatsbeamter.“ Während die anderen Bewohner von harter Arbeit auf dem eigenen Acker leben mussten, herrschte im Hause Müller finanzielle Sicherheit – das brachte Annehmlichkeiten mit sich.
So durfte Helmut Müller beispielsweise schon früh mit seinem Vater auf die Jagd gehen, wie er erzählt. Sogar eine eigene Doppelflinte hatte er. Es gelang ihm unter anderem, eine Wildkatze zu erlegen, die später ausgestopft im Haus stand. „Außerdem lernte ich die Natur kennen und wurde ein kleiner Botaniker.“
Aber auch abseits dieser persönlichen Vorteile wusste er das Leben in Grünbach durchaus zu schätzen. Vor allem die Tatsache, dass das Dorf fast autark funktionierte, imponierte ihm. „Wir hatten drei Lebensmittelläden“, berichtet er. „In welcher kleineren Gemeinde gibt es das heute noch?“ Es gab keine Pendler, alle verdienten ihr Brot im Dorf, und die Kinder waren innerhalb von fünf Minuten in der Schule – ganz ohne Auto. „In der Bescheidenheit lagen Vorteile.“
Helmut Müller erzählt von den Tagen, als er im Bach Forellen fing oder im Saal der Dorfwirtschaft „Zur Steinalb“ tanzen lernte. Er erinnert sich an den langen Weg nach Baumholder zum Konfirmandenunterricht, den er im Alter von 13 Jahren zurücklegen musste – von Grünbach aus ging es mit dem Fahrrad über Mambächel. Auch ist ihm der Glockenturm der Schule noch im Gedächtnis. „Dreimal am Tag und zu besonderen Anlässen wurde die Glocke geläutet“, berichtet er. „Diese Aufgabe hat man immer an einen Jugendlichen vergeben, der dafür ein kleines Taschengeld bekam.“
Als Helmut Müller dann später als einziger Jugendlicher aus dem Dorf neben seinem Bruder die Möglichkeit hatte, die höhere Schule – wie man damals sagte – in Birkenfeld zu besuchen, rostete der Kontakt zu den Grünbacher Freunden naturgemäß ein wenig ein. „Der Weg zum Gymnasium dauerte eineinhalb Stunden“, betont er. „Wenn man dann wieder nach Hause kam, war nicht mehr allzu viel Zeit.“
Dieser Umstand und seine privilegierte Position waren wohl letztlich auch ausschlaggebend dafür, dass Helmut Müller keine große Trauer empfand, als Ende der 30er-Jahre die Nachricht von der Räumung Grünbachs die Runde machte. „Bei den meisten herrschte große Unsicherheit: Wo landen wir, was bekommen wir für unser Geld?“, sagte er. „Für mich war das kein Problem, mein Vater konnte sich seine neue Stelle als Lehrer sogar aussuchen und wählte schließlich Nohfelden.“ Für den damaligen Gymnasiasten war der Umzug sogar ein echter Glücksfall, wie er sagt. „Von Nohfelden aus brauchte ich nur noch 25 Minuten zur Schule.“
Der restlichen Dorfbevölkerung sei es freilich schwergefallen, die Heimat zu verlassen. „Aber Widerstand gab es nicht. Die Leute haben sich mit der Situation auseinandergesetzt.“
Helmut Müller trat später in die Fußstapfen seines Vaters und wurde Lehrer. Erst unterrichtete er von 1947 bis 1962 in Frauenberg, ehe er Rektor der Grundschule Birkenfeld wurde. Diese Stelle behielt er bis zu seiner Pensionierung.
Von unserem Redakteur Peter Bleyer