Berlin

Freiburg und die schwierige Debatte danach

Ein Aufkleber mit der Aufschrift „Refuees welcome“ hängt  in der Innenstadt von Freiburg. Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling wird verdächtigt, in Freiburg eine 19 Jahre alte Studentin umgebracht zu haben.
Ein Aufkleber mit der Aufschrift „Refuees welcome“ hängt  in der Innenstadt von Freiburg. Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling wird verdächtigt, in Freiburg eine 19 Jahre alte Studentin umgebracht zu haben. Foto: dpa

Die Debatte um Verbrechen, die von Flüchtlingen begangen werden, ist schwierig. Experten warnen davor, real existierende Probleme unter den Tisch zu kehren. Denn dadurch vergrößert sich das Leid der Opfer – und zudem haben rassistische Verschwörungstheoretiker ein leichtes Spiel.

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Von Anne-Beatrice Clasmann und Jan Drebes

Die Aufregungswelle verläuft immer gleich. Begeht ein Flüchtling ein Verbrechen, ruft die AfD: Wir haben euch ja gewarnt, viele Flüchtlinge sind Verbrecher. Politiker der Bundestagsparteien empören sich daraufhin über diese Art von Verallgemeinerung. Das war nach der Axt-Attacke eines jugendlichen Afghanen im vergangenen Juli in einem Regionalzug so. Und das ist jetzt nicht anders, nachdem in Freiburg ein Flüchtling als Tatverdächtiger nach einem Sexualmord und in Bochum ein Iraker wegen des zweifachen Vorwurfs der Vergewaltigung festgenommen worden sind. Im nächsten Jahr stehen Bundestagswahlen an. Das macht den Ton noch mal schriller. Polizisten, Migrationsforscher und andere Experten wünschen sich eine sachlichere Debatte. Doch das Thema ist angstbesetzt und hat deshalb das Potenzial, die Gesellschaft noch weiter zu spalten.

Die AfD-Politikerin Alice Weidel argumentierte jüngst bei „Sandra Maischberger“ ganz schlicht. Sie sagt, wenn ein Flüchtling, der von der Politik der offenen Grenzen profitiert hat, einen Menschen tötet, dann sei Bundeskanzlerin Angela Merkel als Befürworterin der liberalen Flüchtlingspolitik von 2015 dafür „indirekt“ mit verantwortlich. Der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen identifiziert „Hunderttausende junge Männer aus patriarchalisch-islamischen Kulturkreisen“ als Risikofaktor.

Schrille Debatte statt Realismus

Befürworter der Willkommenskultur weisen darauf hin, dass die Kriminalitätsrate jugendlicher Migranten in den vergangenen Jahren gesunken sei. Modern denkende Zuwanderer müssen als Beispiele dafür herhalten, dass nicht jeder türkische Familienvater ein Mädchenunterdrücker und nicht jeder Araber ein potenzieller Vergewaltiger ist.

Was bei dieser schrillen Debatte oft zu kurz kommt, ist ein kritischer Blick auf die realen Probleme, die sich eineinhalb Jahre nach dem Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise stellen. Da geht es um Gewalterfahrungen, die viele Flüchtlinge mitbringen – die meisten als Opfer, einige aber auch als Täter. Und um einen Kulturschock, den nicht alle von ihnen schnell überwinden. Das betrifft auch die unterschiedliche Art und Weise, wie Frauen und Männer im Herkunftsland und in Deutschland miteinander umgehen.

Natürlich würden die Menschen in verschiedenen Staaten unterschiedlich sozialisiert, sagt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD). Auch einige Einwanderer aus der Türkei hätten schließlich die Freiheiten, die Frauen in Deutschland oder Skandinavien haben, anfangs nicht richtig interpretiert. „Aber das heißt ja nicht, dass jeder, der kommt und der so etwas redet, sich auch an einer Frau vergreift.“ In der öffentlichen Darstellung werde auch das Phänomen der Gewalt in der Ehe bei türkischstämmigen Frauen in Deutschland stark übertrieben, auch wenn es teilweise „mit der Erziehung, mit den familiären Strukturen zu tun hat, warum diese Frauen überhaupt Gewalt erfahren“.

Der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan kümmert sich in Baden-Württemberg um Jesidinnen, die von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verschleppt worden waren. Es ist eine sehr belastende Tätigkeit. Er sagt: „Die arabische oder die türkische Kultur ist natürlich nicht irgendwie aggressiv, angriffslustig oder menschenverachtend.“ Trotzdem warnt er davor, die Herkunftskultur bei der Gewaltprävention zu vernachlässigen. Für ihn beginnt „die Verteidigung unserer Werte, der Gleichberechtigung, der Emanzipation und der Demokratie“ nicht erst im Integrationskurs, sondern „in Mossul, in Al-Rakka und in Istanbul“. Dass sein Aufruf an die Muslime, lauter zu sagen, dass sie Kinderehen, Vergewaltigungen und andere Grausamkeiten ablehnen, politisch instrumentalisiert wird, will er allerdings unbedingt vermeiden. Kizilhan betont: „Ich will nicht für die AfD hier sprechen.“

Gewalt in der Heimat erlebt

Experten warnen indes davor, die Folgen der Zuwanderung junger, männlicher Flüchtlinge herunterzuspielen. Prof. Dr. Michael Günter, Psychiater und Ärztlicher Direktor der Klinik für Jugendpsychiatrie am Klinikum Stuttgart: „Junge Flüchtlinge sind zunächst nicht anders als Jugendliche aus Deutschland.“

Richtig sei aber, dass manche Geflüchteten in ihrer Heimat Gewalt erfahren hätten. Oder dass sie in einer Kultur mit repressiver Sexualmoral aufgewachsen seien. „Die meisten minderjährigen Flüchtlinge, mit denen ich wegen ihrer Straftaten zu tun hatte, haben diese Form der Erziehung erfahren“, so Günter, der auch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge begutachtet, die straffällig geworden sind. „Diese Gemengelage begünstigt übergriffiges Verhalten, auch Gewalt. Mit Nationalität oder Herkunftsländern hat das aber nichts zu tun.“

Auch die Berliner Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates hält es für falsch, Gewaltprobleme unter den Tisch zu kehren, nur damit Rechtspopulisten kein Futter haben. Sie sagt, man müsse „das Kulturelle auf jeden Fall herausarbeiten“, dürfe „gleichzeitig aber nicht vergessen, dass wir über eine Situation sprechen, die zeitverschoben ist“. Schließlich seien die ersten Frauenhäuser in Deutschland nicht für Einwanderinnen gegründet worden.