MH370: Eines der größten Rätsel der Luftfahrtgeschichte

Eine elektronische Anzeige an einem Gebäude „Pray for MH370“an einem Hochhaus in Kuala Lumpur.
Eine elektronische Anzeige an einem Gebäude „Pray for MH370“an einem Hochhaus in Kuala Lumpur. Foto: dpa

Kuala Lumpur – Ein Flugzeug verschwindet spurlos. Trotz weltweiter Satellitenüberwachung. Trotz einer der umfangreichsten internationalen Suchaktion bislang. Die unglaubliche Geschichte von Flug MH370.

Lesezeit: 7 Minuten
Anzeige

Von Christiane Oelrich (dpa)

Eine elektronische Anzeige an einem Gebäude „Pray for MH370“an einem Hochhaus in Kuala Lumpur.

dpa

Abwurf von Funkbojen aus einer australischen Militärmaschine im neuen Suchgebiet.

Leading Seaman Justin Brown

Startbereit: Eine australische AP-3C Orion beteiligt sich an der Suche.

Leading Seaman Justin Brown

Eine Karte zeigt das Suchgebiet für den verschollenen Flug MH370.

Malaysian Prime Minister Office

Experten des australischen Geheimdienstes entdeckten auf Satellitenbildern ein 24 Meter langes Objekt.

Digitalglobe / Amsa

Ein Gebiet südwestlich von Australien rückt in den Fokus.

Amsa

Menschen trauern um die Insassen des verschollenen Flugs MH370.

Raminder Pal Singh

In einer lauen Sommernacht, am 8. März, startet in Kuala Lumpur um 00.41 Uhr der Malaysia Airlines-Flug MH370. An Bord sind 239 Menschen, darunter ein junges malaysisches Ehepaar auf Hochzeitsreise, 20 Mitarbeiter einer amerikanischen Halbleiterfirma, und eine junge Frau auf dem Weg zu einer Konferenz in der Mongolei. „Sie rief mich vor dem Abflug an und sagte: Vergiss Deine Pillen nicht“, sagt ihre 88-jährige Mutter Lokalmedien.

Pilot Zaharie Ahmad Shah (52) ist ein alter Hase im Cockpit der 777-200, 18.365 Flugstunden, Vater von drei Kindern, stolzer Opa, Hobbykoch und Heimwerker. Neben ihm sitzt Fariq Abdul Hamid (27). Er trainiert noch auf der „Triple Seven“. Vor ein paar Wochen hat er unter Aufsicht einen Flugtest in Hongkong mit Bravour bestanden. „Eine perfekte Landung“ kommentierte der Trainer-Pilot. Ein CNN-Reporter war im Cockpit und zeichnete Landung und Kommentar auf.

Alle 227 Passagiere sind an Bord, 153 davon Chinesen. Niemand hat das Einchecken verpasst, kein umständliches Ausräumen schon eingecheckter Koffer ist nötig. Die Maschine rollt zur Startbahn und hebt ab. Es ist mitten in der Nacht, viele Passagiere dürften sich die Decke über den Kopf ziehen und einfach schlafen wollen. Rund sechs Stunden soll der Flug nach Peking dauern. Dienst ist Dienst, das Kabinenpersonal, – zehn Leute – dürfte wie immer nach Abschalten der Anschnallzeichen mit dem Aufwärmen einer Abendmahlzeit beginnen.

MH370 fliegt Richtung Nordwesten. Um 01.07 Uhr setzt das automatische Kommunikationssystem ACARS routinemäßig ein Signal ab, nichts Besonderes, nur ein Kontroll-Pieps, wie alle 30 Minuten üblich: als Hinweis „alles in Ordnung“. Die Maschine hat ihre Reiseflughöhe erreicht, rund 10 000 Meter, die Piloten können auf Autopilot stellen. Gut 4000 Kilometer liegen noch vor ihnen.

In diesen Minuten passiert etwas an Bord. Die Ereignisse sind der Auftakt zu einem der größten Rätsel der modernen Luftfahrt – nur niemand am Boden weiß zunächst davon. Was in diesen Minuten im Cockpit, in der Kabine, in der Verkabelung des Jets passiert, ist bis heute ungewiss. Die malaysischen Fluglotsen sind ahnungslos. Um viertel nach eins verabschieden sie sich von den Piloten, gleich hätten sie den vietnamesischen Luftraum erreicht. „In Ordnung, gute Nacht“ kommt um 01.19 Uhr aus dem Cockpit von MH370 zurück – Ermittler sagen später, das müsste der Copilot gewesen sein.

Die dramatischen Stunden, die folgen, werden Tage später mühsam und bruchstückhaft aus Radar- und Satellitenaufzeichnungen rekonstruiert. Bekannt ist dies: Um 01.21 Uhr wird der Transponder still. Das Gerät sendet automatisch Informationen wie Flugnummer, Flughöhe, Position und Geschwindigkeit an die Bodenkontrolle. Um 01.37 Uhr wäre wieder ein ACARS-Signal fällig, aber das System schweigt. Bei den Fluglotsen in Ho Chi Minh-City in Vietnam melden sich die Piloten nie.

Wie sich erst Tage später herausstellt, weicht das Flugzeug jetzt über dem chinesischen Meer vom Kurs ab, vollzieht eine Kehrtwende und überquert die malaysische Halbinsel an der Grenze zu Thailand Richtung Osten. Um 02.15 Uhr taucht auf dem Radar der Spezialisten des malaysischen Militärs ein Punkt auf – ein „unidentifiziertes Flugobjekt“. Es verschwindet nach kurzer Zeit.

An Bord eines indonesischen Aufklärungsflugzeuges.

dpa

Ein vietnamesischer Luftwaffen-Offizier erläutert den Umfang des Suchgebiets.

Luong Thai Linh

Blick aus einer noch aus Sowjetzeiten stammenden AN- 26 der vietnamesischen Luftwaffe, die sich an der Suche beteiligt.

dpa

Auch die taiwanesische Luftwaffe sucht mit, hier eine P-130-Transportmaschine.

dpa

Ein chinesischer Satellit hat drei «schwimmende Objekte» entdeckt. Sie lassen sich aber später nicht auffinden.

Luong Thai Linh

Auf chinesischen Satellitenbildern sind größere Objekte zu sehen, die im mutmaßlichen Absturzgebiet entdeckt wurden.

Sastind.Gov.Cn

Mit allen Mitteln suchen Helfer nach den Überresten der verschwundenen Boeing.

str

Suche auf See mit internationaler Beteiligung: Ein Schiff mit indonesischen Rettungsspezialisten vor Sumatra.

Hotli Simanjuntak

Gebet für die Flugpassagiere der verschwundenen Boeing in einer malaysischen Moschee.

Ahmad Yusni

Malaysia Airlines gilt als zuverlässige Airline. Sie fliegt mit Boeing und Airbus-Maschinen nach eigenen Angaben täglich 37 000 Passagiere zu 80 Zielen im In- und Ausland.

Ahmad Yusni

Botschaft für die Vermissten an großen Plakatwänden auf dem Flughafen von Kuala Lumpur.

Mak Remissa

Wünsche und Hoffnungen schreiben Passanten an eine Informationstafel auf dem Kuala Lumpur International Airport.

dpa

Philipinische Studenten entzünden Kerzen für die Passagiere des vermissten Fluges MH370.

dpa

Ob die Nachtwache schläft? Ob jemand sich denkt, „Ist ja nun fort, wird schon gut sein“? Man weiß es nicht. Alarm wird offenbar nicht geschlagen. Auch nicht auf der anderen Seite der Grenze. Das thailändische Militär sagt Tage später auch, es habe den Punkt gesehen. Weder hier noch da steigen offenbar Kampfjets auf, um den vermeintlichen Eindringling im Luftraum unter die Lupe zu nehmen.

Die Maschine fliegt jetzt, von keinem Radar entdeckt, in unbekannte Richtung. Wurde sie entführt? Von den Piloten selbst, oder Eindringlingen im Cockpit? Hat jemand die Piloten überwältigt und die Kontrolle übernommen? Oder hat ein Schwelbrand in der Verkabelung die Kommunikationssysteme außer Gefecht gesetzt und die Piloten mit giftigen Gasen bewusstlos gemacht? Man weiß es nicht.

Um 02.40 Uhr merkt man bei Malaysia Airlines, das etwas nicht stimmt. Es gibt keinen Kontakt zu den Piloten, man checkt noch mal mit allen Bodenkontrollbehörden – nichts. Um 3.45 Uhr geht ein Notruf heraus. Um 06.40 Uhr soll die Maschine in Peking landen. „Flight delayed“ – „Flug verspätet“, lesen Angehörige auf der Anzeigetafel. 07.24 Uhr: Malaysia Airlines postet auf Facebook, die Maschine sei verschwunden.

Erst eine Woche später stellt sich heraus, dass Flug MH370 zu dem Zeitpunkt anscheinend noch in der Luft war. Ein Satellit über dem Indischen Ozean fing Signale auf, das letzte um 08.11 Uhr. Dann die aufsehenerregende Enthüllung: Das Abweichen vom Kurs, das Ende der Kommunikationssignale, das deute auf eine „absichtliche Aktion von jemandem an Bord des Flugzeugs“ hin, sagt Malaysias Regierungschef Najib Razak. „Wir ermitteln wegen Sabotage, Entführung, Terrorismus“, sagt Polizeichef Khalid Abu Bakar.

Malaysia Airlines ist eine Fluggesellschaft mit fabelhaftem Ruf. Seit 1970 gab es nur zwei Zwischenfälle mit Todesfällen, eine entführte Maschine 1977, eine missglückte Landung 1995. Im Umgang mit den Angehörigen und ihren Heimatländern, die bei den Ermittlungen helfen, kommen aber sowohl die Fluggesellschaft als auch die malaysischen Behörden schlecht weg. Zu spärlich die Informationen, zu wenig Details, zu widersprüchlich viele Angaben.

„Angesichts der heutigen Technologie riecht der Zeitverzug entweder nach Vernachlässigung von Pflichten oder einem Zögern, Informationen umfassend und rechtzeitig zu teilen. Das wäre unerträglich“, kommentiert die amtliche chinesische Agentur Xinhua scharf.

Angehörige werfen in Peking mit Wasserflaschen nach Airline-Mitarbeitern. In Kuala Lumpur versuchen sie, eine Pressekonferenz des Verkehrsministers zu stürmen. Der verteidigt sich: „Dies ist ein nie dagewesenes Ereignis. Wir werden die Luftfahrtgeschichte neu schreiben müssen.“

Die Untersuchung läuft zweigleisig: Die Suche nach dem Flugzeug, und die Ermittlungen, was sich an Bord zugetragen haben könnte: Zwei Iraner geraten ins Visier der Ermittler. Sie waren mit gestohlenen Pässen an Bord, einem österreichischen und einem italienischen. Wieso ist das am Flughafen nicht aufgefallen? Die Polizeiorganisation Interpol lamentiert, dass die malaysischen Grenzer nicht in die Datenbank für gestohlene Pässe schauten. Aber die Spur wird schnell kalt. Die beiden Männer, 19 und 29 Jahre alt, wollten in Europa Asyl beantragen. „Je mehr Informationen wir bekommen, desto mehr sind wir geneigt, daraus zu schließen, dass es sich um kein Attentat handelt“, sagte Interpolchef Richard Noble.

Dann geraten die Piloten ins Zwielicht: Der jüngere hat auf einem früheren Flug mal Touristinnen ins Cockpit gelassen – ist er ein Sicherheitsrisiko? Der ältere hat einen Flugsimulator zu Hause. Wirklich nur, um mit Freunden die Freude am Fliegen zu teilen? Die Ermittlungen laufen noch.

Die Suche nach dem Flugzeug konzentriert sich zunächst auf das Südchinesische Meer, entlang der Flugroute. Dutzende Schiffe und Flugzeuge sind im Einsatz: aus Malaysia, Vietnam, China, Thailand, Singapur und anderen Ländern. Vermeintliche Wrackteile werden gesichtet, aber es ist immer falscher Alarm.

Warum dauert es vier Tage, bis das malaysische Militär damit rausrückt, dass es die Maschine auf Radar viel weiter westlich gesehen hat? „Wir waren uns nicht sicher, wir mussten das erst verifizieren“, sagt Militärchef Rodzali Daud. Die Flugzeuge und Schiffe werden umdirigiert: Indien schickt Aufklärer ins Andamanische Meer, die US-Marine nimmt Kurs auf die Straße von Malakka.

Eine ganze Woche dauert es bis zu der Enthüllung, dass die Maschine auch dort nicht sein kann, weil sie noch stundenlang weiterflog. Warum erst jetzt? „Wir können keine Daten herausgeben, die nicht 100-prozentig überprüft sind“, sagt Verkehrsminister Hishammuddin Hussein. Experten markieren zwei mögliche Flugrouten: einen nördlichen Bogen über die Grenze zwischen Indien und Pakistan bis nach Kasachstan, einen südlichen über den Indischen Ozean an Australien vorbei. 26 Länder gehen ihre Radaraufzeichnungen durch und suchen ihre Gebiete entlang der neuen Flugrouten ab.

Die Allianz-Versicherung beginnt mit der Auszahlung an Angehörige der Passagiere. Eine Millionensumme, sagt der Münchner Konzern. Insgesamt soll die Maschine mit 100 Millionen Dollar versichert sein. Sollte es sich aber um einen Unfall und nicht um eine Entführung handeln, könnte die Schadensumme laut der Hannover Rück mehrere hundert Millionen Dollar erreichen.

Am Donnerstag, zwölf Tage nach dem Verschwinden, meldet Australien eine neue Spur, die bislang aussichtsreichste. Auf Satellitenbildern vom 16. März sind womöglich Wrackteile zu sehen. Das Seegebiet ist wegen seiner Stürme berüchtigt, es liegt 2500 Kilometer südwestlich von Perth. Sofort beginnt die komplizierte Suche, zunächst erfolglos.

Selbst wenn die Objekte tatsächlich Wrackteile sind, wären sie erst ein winziges Puzzle-Steinchen bei der Aufklärung des Rätsels um Flug MH370. Sie sind wahrscheinlich schon Hunderte Kilometer abgetrieben. Das Wrack zu orten, dürfte schwer sein, die Bergung aus womöglich mehreren tausend Metern Tiefe erst recht. Bei der Air-France-Maschine, die 2009 in den Atlantik stürzte, dauerte das zwei Jahre.