ATP-Tennis-Turniere seit 1993, Handball-WM 2015, Turn-WM 2018, Leichtathletik-WM 2019. Die anstehende Fußball-Weltmeisterschaft (20. November bis 18. Dezember) ist nicht die erste große Sport-Veranstaltung, die in Katar stattfindet. Mit Sicherheit ist sie aber die meistdiskutierte. Und ganz gewiss stellt sie den vorzeitigen Höhepunkt eines gut durchdachten Plans des Emirats dar.
Kritik hagelte es bereits bei den vergangenen Veranstaltungen: Boris Becker, seinerzeit eine der Hauptattraktionen im neu gebauten Tennis-Stadion in Doha, erhielt vor knapp 30 Jahren für sein umfangreiches PR-Programm eine sechsstellige Summe der Gastgeber. Ausländische Arbeiter wurden bei den Bauten der Hallen für die Handball-WM 2015 ausgebeutet. Bei der Leichtathletik-WM 2019 kollabierten Langstreckenläufer aufgrund extremer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit außerhalb des klimatisierten Khalifa International Stadium von Doha. In der Arena finden acht Spiele während der Fußball-WM statt – unter anderem die Partie Deutschland gegen die Auswahl Japans.
Ich sehe da weder Vor- noch Nachteile.
Markus Ströher, Team-Manager des Tischtennis-Bundesligisten TTC Grenzau
Die Dimensionen des bevorstehenden Turniers übertreffen noch einmal alle bisher da gewesenen Events: Bis zu 15 000 Gastarbeiter starben, von acht WM-Stadien wurden allein sechs komplett neu gebaut, und ein neues Stadtbahnsystem – im Übrigen geplant durch die Deutsche Bahn – entstand. Die Investitionen für die Ausrichtung dieser WM werden auf bis zu 300 Milliarden Dollar geschätzt. Da stellt sich die Frage: Ist der Fußball jetzt völlig übergeschnappt?
In einem ersten Stimmungsbild bei den (Amateur-) Fußballern aus der Region wurde – bei aller Kritik – vor allem die Leidenschaft zum Spiel deutlich. Doch wie sieht es bei Athleten aus anderen Sportarten aus? Was halten sie von dieser WM? Und helfen die fragwürdigen Entwicklungen den anderen Sportarten womöglich sogar, sich etwas aus dem Schatten des „Königs Fußball“ herauszustehlen?
„Ich sehe da weder Vor- noch Nachteile“, sagt Markus Ströher, Team-Manager beim Tischtennis-Bundesligisten TTC Grenzau, über die Fußball-WM und ergänzt: „Klar kann man auf die Milliarden, die dort hin- und hergeschoben werden, neidisch sein. Aber so ist die Gesetzmäßigkeit. Sie haben eben die Reichweite und Aufmerksamkeit.“ Beim Fußball überbieten sich die Fernsehanstalten bei der TV-Rechte-Vergabe regelrecht. Den Zuschlag für alle Spiele der WM in Katar und der Heim-EM 2024 erhielt der Bezahl-Sender Magenta TV, ARD und ZDF zeigen dank einer Sublizenz 48 der 64 Spiele live. Beim Tischtennis indes ist die Bundesliga gezwungen, neue Vermarktungswege durch die Übertragung der Spiele über den Streaming-Dienst „Twitch“ zu gehen.
Im Sommer sträubten sich die öffentlich-rechtlichen Sender bei der Heim-EM im Basketball gar lange gegen die Übertragungen der deutschen Spiele – selbst in der Finalrunde.
Genau hier sieht jedoch Alexander Krippes, Spielertrainer der SG Westerwald Volleys aus Dernbach und Ransbach-Baumbach in der Volleyball-Regionalliga Südwest, eine Chance für die Sportarten, die weniger Beachtung finden als der Fußball. „Um Spitzenfußball zu sehen, braucht man viele unterschiedliche Abos. Da bekommt man immer wieder Kritik mit“, kann sich der Volleyballer vorstellen, dass sich die Sportarten im Schatten des Fußballs dort „etwas abgreifen“ könnten. „Diese Sportarten müssen selbst daran arbeiten, mehr in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Die European Championships in München waren eine gute Sache, da habe ich nur Positives gehört“, meint Krippes.
Eine Gefahr durch die negative Berichterstattung im Zusammenhang mit der Katar-WM für den Fußball sieht er indes nicht: „Langfristig wird sich das nicht auswirken.“ Auch am angekündigten TV-Boykott vieler Fans hat der 30-Jährige seine Zweifel: „Im Endeffekt wird ein Großteil dieser Personen auch zuschauen – gerade dann, wenn Deutschland weit kommen sollte.“ Auch wenn für den ehemaligen Volleyball-Zweitligaspieler „alles sehr fragwürdig“ erscheint, hofft er für die Bevölkerung Katars auf mehr Aufmerksamkeit durch die Berichterstattung. „Katar ist eben das Land, das es ist. Da hat die WM nichts mit zu tun. Und die Gastarbeiter, die unter schlechten Bedingungen arbeiten müssen, hätten ohne das Turnier wahrscheinlich auf anderen Baustellen gearbeitet.“
Vergleiche mit der Handball-WM 2015
Auf den Baustellen für die Handball-WM 2015 zum Beispiel, für die drei Spielhallen komplett neu gebaut wurden. „Das waren aber überschaubare Hallen, die auch für andere Dinge genutzt werden können“, schätzt Thomas Kistner ein.
Kistner ist Handballer beim HSV Sobernheim aus der Rheinhessenliga und vergleicht die Diskussionen von heute mit denen von vor sieben Jahren: „Hintergründe wurden damals, aufgrund der wenig vorhandenen Berichterstattung der Medien kaum öffentlich. Der Hauptkritikpunkt damals lag eher bei den fragwürdigen Einbürgerungen, nach denen Top-Spieler unter der Flagge Katars spielten.“ Kistner glaubt zwar nicht, dass sich die Amateursportler aufgrund der Kritik vom Fußball abwenden und stattdessen andere Sportarten ausüben werden. Eine „gewisse Vorfreude“ oder „positive Atmosphäre“ gegenüber der WM sei innerhalb des HSV Sobernheim aber nicht zu spüren.
Einer, der bereits einen Wettkampf vor Ort, in Katars Hauptstadt Doha bestreiten durfte, ist Kai Kazmirek. Der Zehnkämpfer der LG Rhein-Wied erinnert sich: „Die Entscheidung für Doha fanden viele Athleten bei uns auch nicht gut. Im Endeffekt mussten wir aber unsere Leistungen bringen, um gefördert zu werden.“ Daher findet der Neuwieder auch, dass man sich die kommenden Begegnungen anschauen kann, denn „die Sportler können am wenigsten dafür“.
Er selbst erlebte in Doha, zumindest sportlich betrachtet, nicht seinen besten Wettkampf. Sein Zehnkampf war nach einem Wackler über die 110 Meter Hürden und der verpassten Chance auf eine vordere Platzierung bereits nach sechs Disziplinen praktisch beendet.
Kazmirek vermisst das Feuer
Der WM-Dritte von 2017 hat aber nicht nur schlechte Erinnerungen an die WM. Zum einen, weil sich sein Landsmann Niklas Kaul aus Mainz am Ende fulminant zum Weltmeister krönte, zum anderen aber auch wegen der „super“ Organisation, wie er im Gespräch mit unserer Zeitung weiter ausführt: „Flüge, Shuttles, Hotel, Essen – alles hat gepasst.“ So sah es auch schon der ehemalige deutsche Tennis-Star Boris Becker nach dem ersten Tennis-ATP-Turnier in Doha im Jahr 1993: „Wir werden mit offenen Armen empfangen. Ob es jetzt gestellt ist oder nicht, ist mir irgendwo auch egal. Es ist toll, es ist schön. Ich bin mir sicher, dass ich und auch andere Spieler wiederkommen werden.“
Katar hat demnach alles, was das Sportler-Herz begehrt. „Fast“, erwidert Kazmirek, „es ist ein sehr kleines Land, und unsere Wettkämpfe hatten kaum Zuschauer.“ Der Neuwieder vermisste das „Feuer, das sich von den Fans auf die Athleten überträgt“. Davon lebe der Sport laut ihm nun mal.
Kaum vorzustellen, dass während der Fußball-WM Bilder von halb oder fast komplett leeren Stadien zu sehen sein werden. Ganz gewiss nicht beim Image-Höhepunkt des gut durchdachten Plans des Emirats. Dafür werden die katarischen Verantwortlichen sorgen – selbst wenn es das Investitionsvolumen dieser Fußball-WM noch mal erhöhen wird.
Weiche Macht: Katars Plan mit dem Sport
Warum interessiert sich das kleine Emirat so sehr für die Ausrichtung der Sportveranstaltungen und investiert Unsummen? Es ist ein offenes Geheimnis, dass hinter den Bemühungen im Sport eine Verteidigungsstrategie steckt. Katar ist unter anderem umgeben von zwei mächtigen Ländern. Im Süden grenzt Saudi-Arabien an die arabische Halbinsel. Zusätzlich trennt das mit einer Fläche von 11 437 Quadratkilometern sehr kleine Land nur der Persische Golf vom Iran im Norden.
Um sich vor diesen Nationen zu schützen und Szenarien wie den Einmarsch Iraks in Kuwait im Jahr 1990 zu verhindern, will Katar seine Position in der Region stabilisieren. Und dazu stärkt das Emirat seine Soft Power (weiche Macht). Dieser von Joseph Nye geprägte politikwissenschaftliche Begriff beschreibt die politische Machtausübung mit nicht militärischen Ressourcen.
Mithin versucht das Emirat, auf internationaler Ebene relevant zu sein. Zum einen durch milliardenschwere Investitionen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Zum anderen aber auch durch Aufmerksamkeit in der Sportwelt. Und was vereint beides so sehr wie eine Fußball-WM, wie man in den vergangenen Wochen und Monaten unschwer erkennen konnte? Es ist der vorläufige Höhepunkt von bislang mehr als 500 internationalen Sportveranstaltungen in Katar. hnp