Stalingrad und russische Kriegsgefangenschaft überlebt: Philipp Mertes wohnt seit der Nachkriegszeit in Kamp-Bornhofen. Die russischen Entlasspapiere hat der 89-jährige gebürtige Koblenzer aufbewahrt. Foto: Norbert Schmiedel
Von unserem Redakteur Michael Stoll
„Keine Nahrung. Keine militärische Ordnung. Kaum medizinische Versorgung der Verwundeten und Kranken. Keine Bestattung der Gefallenen. Wir trugen noch immer Sommeruniformen in der bitteren Kälte. Und dazu das furchtbare Bombardement der Roten Armee ...“
Bei minus 42 Grad hockt Philipp am ersten Weihnachtstag mit drei, vier Kameraden in einem Unterstand im Industriequartier Stalingrad Nord. Hier, in den Ruinen des Panzer- und Traktorenwerks, einst Herz der Industriestadt, die den Namen des sowjetischen Diktators trug, hält seine Einheit die Stellung gegen immer neue russische Angriffe. Hierhin hat der andere Diktator die jungen Kerls geschickt: Adolf Hitler. Der Führer, der der gesamten 6. Armee nach ihrer Einkesselung durch russische Truppen den Ausbruch und die Kapitulation verboten und damit das Schicksal von mehr als 200.000 Soldaten besiegelt hat. Sie sitzen in der Falle. Und jetzt, am Lichterfest, kauern Philipp und seine Kameraden beisammen, wärmen sich gegenseitig – und singen Weihnachtslieder. Briefe kommen schon lange nicht mehr in den Kessel. An Geschenke ist gar nicht zu denken. Die Hoffnung schwindet von Tag zu Tag…
Die Fahrkarte in die Freiheit. Sechs lange Jahre in Krieg und Gefangenschaft hatte sich Philipp Mertes nach diesem Stück Papier gesehnt.
Als echter „Schängel“ ist Philipp Mertes in der Koblenzer Altstadt geboren. Erst nach dem Krieg und der russischen Gefangenschaft kommt er nach Kamp-Bornhofen, wo er seine spätere Frau kennenlernt und sesshaft wird. Stalingrad und die ertragenen Leiden in Kriegsgefangenschaft aber hat er nie vergessen. Sie rauben ihm bis heute den Schlaf, wenn er schreckliche Bilder vor Augen hat und davon aufwacht. Seine Jugend haben sie ihm zerstört, und seine Gesundheit: Er ist schwer kriegsbeschädigt, hundert Prozent schwerbehindert, was ihn heute, im Alter von 89 Jahren, jeden Tag mehr beeinträchtigt. Geblieben sind die Erinnerungen …
Mit 18 muss er Soldat werden. Nach einigen Wochen Ausbildung geht’s mit der 389. Infanteriedivision vom Elsass über Polen nach Russland. Schon der Eisenbahntransport ist eine Tortur. Essen ist knapp, die Offiziere unnachgiebig. Im Oktober 1942 kommen sie kurz vor Stalingrad-Koroditsche an und werden sofort ins Feuer der ersten Kampfeinsätze geworfen. Dann geht’s tiefer in den Stadtkern. Stalingrad-Nord. Endstation. Bis zur letzten Patrone kämpfen, so lautet der Führerbefehl.
„Verzweifelt suchten wir nach etwas Essbarem ...“
Vielmehr haben sie bald auch nicht mehr zu bieten: Schwere Waffen werden zerstört, damit sie dem Feind nicht in die Hände fallen. Mit leichten Waffen gegen Geschütze, Panzer und Raketenwerfer, die sogenannten „Stalinorgeln“. Philipp Mertes ist MG-Schütze. Aber bald wird auch die Munition knapp. Was Hitler und sein Luftwaffenchef Hermann Göring versprochen haben, die Versorgung einer ganzen Armee über eine Luftbrücke, ist nie, an keinem Tag, auch nur annähernd gelungen. Soldaten erfrieren, verhungern. Verwundete krepieren elendig. Der Tod ist allgegenwärtig.
Mertes’ Stellung wird getroffen. Er trägt Schussverletzungen an der Hand und am Oberschenkel davon, Zehen gefrieren. „So irrte ich, ziellos, immer wieder über Leichen hinweg durch das völlig zerstörte Industriewerk. Verzweifelt suchten wir nach Essbarem. Dies zu beschreiben, tu ich besser nicht“, erinnert er sich heute. In diesen letzten Tagen der Tragödie gelangt er wie Hunderte andere auch zum Flugplatz Pitomnik, „in der Hoffnung, als Verwundeter zum Feldlazarett mitgenommen zu werden.
Mertes als junger Soldat, kurz bevor er mit seiner Division nach Stalingrad verlegt wurde.
Doch es half kein Betteln und Beten. Viele, sehr viele, so auch ich, wurden grob und mit Stößen abgewiesen. So flog die letzte Hoffnung, die JU 52, in Richtung deutsche Front ab. So saß ich elend im Schnee mitten unter verhungerten, erfrorenen und gefallenen Soldaten, die auch, wie ich, raus aus dem Hexenkessel Stalingrad wollten. Noch immer hörte ich das Weinen, Fluchen und Schreien der noch Lebenden, die vorher noch versuchten, schleichend und bettelnd ins Flugzeug zu kommen. Es fielen auch Schüsse.“ In solch aussichtsloser Lage hat er kaum weiter ans Überleben geglaubt. „Manchmal hab ich gedacht, ich bleib einfach sitzen und schlaf ein …“
Wie er in seine alte Stellung zurückgekommen ist, weiß er bis heute nicht. „Ich war besinnungslos.“ Erst im alten Unterstand kommt er wieder zu sich. Sein Retter, ein junger Mann aus Einbeck, wird dann in Gefangenschaft zum Freund. Die Einkesselung der Stadt beginnt. Mit letzter Kraft kämpfen die Männer am Theater Nord. Bei Beschuss wird Philipps rechtes Auge schwer verletzt. „Blutend verließ ich, mit meinem Stahlhelm halb voll mit Blut, die Stellung.“ Nirgendwo mehr Verbandsmaterial. „In einem großen Fabrikkeller, der mit Verwundeten überfüllt war, konnte ich auch keine Hilfe bekommen.“ In diesem Loch, es muss der 30. Januar gewesen sein, hört er im Radio Fetzen einer Rede Görings. Eine Lobesrede auf die 6. Armee. Eine Leichenrede auf die Verzweifelten. „Einer der Verwundeten hat dem Volksempfänger einen Tritt gegeben“, erinnert sich Mertes. Hier, im Vorhof der Hölle, wird er gefangen genommen.
Mit der Peitsche wie die Sklaven auf den Eismarsch getrieben
„Am 2. Februar beginnt der zweite Abschnitt meiner zerstörten Jugend“, heißt es in seinen Erinnerungen. Angetrieben von berittenen Wachsoldaten und „bearbeitet mit der Peitsche wie Sklaven“ wird er zusammen mit Tausenden Schicksalsgenossen auf die zugefrorene Wolga getrieben. „Viele Kameraden mussten auf diesem Eismarsch ihr Leben lassen. Wer einschlief, erfror. Wer aus der Kolonne driftete, wurde schlimmstens bestraft.“ Unter hohen Verlusten erreicht der Treck das Dorf Dubowka, wo in einem Klosterkeller hartes Brot verteilt wird. Das erste Essbare seit Tagen. Philipp aber geht leer aus. „Ich, immer der Jüngste, wurde ,totgeteilt’, musste bis zur nächsten Zuteilung weiter hungern. Kameradschaft hin, Kameradschaft her.“
Weiter schleppt sich der Tross nach Bekedowka, in ein Lager. Zwangsarbeit. Ein Großteil der Männer, darunter auch Mertes, ist zur Arbeit gar nicht mehr fähig. Abgemagert, krank, verletzt. Lumpen am Körper, kaputte, mit Lappen und Zeitungen notdürftig „geflickte“ Schuhe. Frierend. Und im Lager grassiert der Flecktyphus. Das Schlimmste aber ist die Ziegelei. „In diesem im Berg gelegenen Werk war die Arbeit sklavisch, schwer und menschenverachtend. So brach ich nach mehreren Wochen zusammen.“ In einer Krankenstation hat er nur deshalb überlebt, weil ihm der Freund aus Einbeck das steinharte Brot vorkaute – er allein hätte es nicht mehr beißen können. Innere Krankheiten, die er sich hier zuzieht, bereiten ihm heute noch starke Beschwerden. Doch Philipp überlebt, während um ihn herum der Tod Alltag ist. Von 110.000 gefangen genommenen Deutschen stirbt laut Angaben von Historikern die Hälfte bis zum Frühjahr 1943. Nur 5000 kehren wieder nach Hause zurück.
Einer von ihnen ist Philipp Mertes. Im Januar 1949 erhalten die Internierten im Lager Saratow plötzlich bessere Kleidung. Vom Bahnhof aus schickt man sie über Moskau und Riga, durch Russland, Polen und die DDR nach Hof in Bayern. Endlich. Freiheit! Tränen fließen in Strömen. Und es sollen nicht die letzten sein. „Am Rhein entlang blieben meine Augen nicht trocken. Und als ich Koblenz in Trümmern sah, traf mich ein Schock. Die ganze Altstadt war zerstört, weshalb ich auch keine Angehörigen fand.“ Philipp trifft sie schließlich in einem Hunsrückdorf. Ausgemergelt kehrt der junge Mann, der unzähligen Schmerz und sinnloses Sterben gesehen, das Entsetzliche überstanden hat, wieder ins Leben zurück.
Rhein-Zeitung, 27. Dezember 2012