Vor etwas mehr als einem halben Jahr war der deutsche Fußball, besser gesagt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, an einem Punkt angekommen, an dem alle wussten, dass es so nicht weitergehen kann. Kein Esprit, kein Erfolg, kaum noch Fans – Tristesse, so weit das weinende Auge blickte. Selbst die rund 80 Millionen Bundestrainer hatten nicht einmal eine vage Vorstellung davon, wie es besser werden könnte mit den nicht mehr vorzeigbaren bundesdeutschen Elite-Kickern.
Alle ziehen an einem Strang
Doch anders als in der Politik, wo die Umsetzung guter und praktikabler Lösungsansätze oftmals an der unheilvollen Mischung aus parteipolitischen Sachzwängen und ideologischer Verblendung scheitert, zogen sie beim DFB an einem Strang, um aus der Misere herauszukommen. Handelnde Personen – andernorts vergebens gesucht; Bundestrainer Julian Nagelsmann und sein Team füllten diesen Begriff mit Leben. Nagelsmann krempelte den Kader unter dem Primat des Leistungsprinzips radikal um. Er formte nicht nur eine neue Mannschaft, er etablierte auch einen neuen Geist bei einer Auswahl, die seit dem Debakel bei der WM 2018 eher uninspiriert-leblos daherkam.
Nagelsmann ging ins Risiko, bewies Courage. Damit ist er vorangegangen, hat die Köpfe der Spieler erreicht. Er hat dort die für Erfolg maßgeblichen Voraussetzungen wie Mut, Selbstbewusstsein und Widerstandsfähigkeit implantiert und damit solche Halbzeiten wie die zweite im Viertelfinale gegen Spanien erst möglich gemacht. Eine Mannschaft, die an den Erfolg glaubt, die alles dafür gibt und dabei enormes spielerisches Potenzial offenbart – ein „Weiter so“ ist nun nicht nur geboten, sondern ausdrücklich gefordert.
Eine Perspektive ist erkennbar
Nein, die Zukunft des deutschen Fußballs muss nicht rosig oder zwingend glanzvoll sein. Aber der deutsche Fußball muss eine Perspektive haben. Und die hat er unter Nagelsmann, der Spieler und Fans den Glauben an die eigene Stärke zurückgegeben hat.
An Nagelsmann ist es, die Schlüsse aus dieser EM zu ziehen. Mit Blick auf die WM 2026 muss er das richtige Personal auswählen, die richtige Mischung finden, wenn altgediente Recken wie Manuel Neuer, Thomas Müller oder Toni Kroos nur noch DFB-Historie sind und andere Spieler Führung und Verantwortung übernehmen müssen.
Er muss auch diesem Kader dann wieder Wir-Gefühl und Zuversicht einhauchen, wie er es bei dieser EM überzeugend getan hat. Damit wird eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft auch fortan sicher nicht jedes Spiel gewinnen. Aber sie wird den Eindruck vermitteln, alles dafür zu geben. Einer für alle, alle für einen. Eine Bürgergesellschaft im Kleinen quasi. Kann dieses lohnende Miteinander zu etwas gesamt-gesellschaftlichem Großen werden, wie von Nagelsmann angedacht? Schön wär's. Viel wichtiger aber ist, dass er es sich zu sagen getraut und als Führungskraft neben Fußball-Sachverstand auch Sozialkompetenz bewiesen und Empathie gezeigt hat. Weiter so!