Zwischen Eis und Wüste

Magisches Chile: Die Granitnadeln der drei Torres („Türme“) im Paine-Nationalpark von Patagonien schälen sich aus dem Dunst hervor.
Magisches Chile: Die Granitnadeln der drei Torres („Türme“) im Paine-Nationalpark von Patagonien schälen sich aus dem Dunst hervor. Foto: Olaf Goebel

Das Campamento de Chileno ist schon in Sicht, da bläst uns der Nordost mit voller Kraft entgegen. Brigitte drückt sich mit Macht an den Felsen, denn rechts droht ein Geröllhang zur Talfahrt einige Hundert Meter hinab in die Schlucht zum Rio Ascencio. Zu allem Überfluss ertönt von hinten noch Pferdegetrappel auf dem schmalen Pfad. Wir sind im Nationalpark Torres del Paine in Patagonien unterwegs. Mit stürmischen Zeiten muss man in Chile allemal rechnen – bei Regen und auch blauem Himmel.

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Von unserem Mitarbeiter Olaf Goebel

Unsere Truppe hat die Granitnadeln der drei Torres („Türme“) im Visier. Doch erst einmal lassen wir die Reitertouristen, die mehr schlecht als recht im Sattel hängen, an einer Ausweichstelle passieren. Freundlich hebt der Chef der Truppe die Hand, während sein dunkler Zopf im Wind fliegt. Nahe der stattlichen Hütte auf 418 Metern treffen wir später an der schwankenden Hängebrücke auf die angepflockten Pferde. Denn von nun an geht es für alle Torres-Fans nur noch auf zwei Beinen bergauf. Entlang des Flusses und hier und da über kleine Stege, die Bachläufe aus Seitentälern überspannen.

Der Wind bleibt ein treuer Freund, jagt aber am Himmel meist die Wolken vor der Sonne weg. Die Torres rücken näher. Unsere Reihen haben sich etwas gelichtet, bevor sich der Pfad die letzten 300 Höhenmeter durch einen Geröllhang zieht. „Ein bisschen Schwund muss sein“, schallt es den Zurückbleibenden nur scherzhaft hinterher.

Knapp 900 Meter zeigt der Höhenmesser. Noch eine kleine Klettertour hinab zum türkisfarbenen See. Hinter ihm türmen sich die drei Torres auf – 2600 bis 2850 Meter hoch, senkrechte Granitfelsen.

Es ist ein fantastischer Anblick. Vergessen ist die Anstrengung und auch der innere Schweinehund, der bei heftigen Passagen immer mal bellte: „Warum tust du dir das an …“ Kameras surren und klicken, andere Wanderer machen sich schon auf den Rückweg. Wir lassen noch die Seele baumeln an den „Türmen im blauen Himmel“, wie sie die Tehuelche-Indianer nennen. Patagonien, am Ende der Welt, du hast uns in deinen Bann geschlagen. Reiseleiter Andreas reißt uns aus den Gedanken. Er mahnt: „Denkt dran, genug trinken, und auf geht's!“

Andreas ist gebürtiger Schwarzwälder. Der 34-Jährige hat ein sicheres Händchen für die Gruppe, und so bleibt die Stimmung bis zum Finale prächtig. Der Diplom-Regionalwissenschaftler mit Schwerpunkt Ethnologie Südamerikas lebt vorwiegend bei Cusco in einer peruanischen Familie. Er ist freier Reiseleiter.

Abends taucht die untergehende Sonne die Cuernos („Hörner“) des Torres-Massivs in ein goldenes Licht. Wir lassen bei einem Stopp den Anblick auf uns wirken – und wie bestellt taucht auf einem Hügel am Lago Pehoé noch ein Rudel Guanakos auf. Kitschig und passend zugleich.

Tosende Wasserfälle, Hügel mit vom Sturm zerzausten Califate-Sträuchern (Berberitzen) und Südbuchen (Nothofagus) oder auch der mächtige Grey-Gletscher mit seinen zwei Eiszungen machen den Nationalpark Torres del Paine zu einem Erlebnis für Naturfreunde und Rucksackwanderer.

Ein Muss ist die Kolonie Seno de Otway. Bis zu 10 000 Magellan-Pinguine brüten während des chilenischen Sommers (bei uns Winter) in dem 80 Hektar großen Areal. Hier finden sich zahlreiche possierliche Frackträger zu einem watschelnden und fotogenen Catwalk ein. Das Städtchen Puerto Natales an der Bucht der letzten Hoffnung ist das Eingangstor in die Berg- und Gletscherwelt, während Puntas Arenas mit Kreuzfahrerterminal, Fischindustrie und Flughafen den stolzen Titel der südlichsten Großstadt Chiles (100 000 Einwohner) trägt.

Von hier bringt uns der Flieger 1350 Kilometer Luftlinie gen Norden, mitten ins Herz der Seen und Vulkane zu einem neuen Abenteuer. Willkommen im Land der Mapuche, den indianischen Ureinwohnern Chiles, die sich lange gegen die vorrückenden Siedler angestemmt haben. Sie stellen rund 93 Prozent der indianischen Bevölkerung, die 1,2 der 16 Millionen Chilenen ausmacht. In jüngster Zeit teilen die Mapuche ihre Traditionen den Einheimischen und Touristen mit. So wie Margot, die mit Tochter Charlotte nahe Pucón am Villarrica-See das Gästehaus „Ruka Rayen“ mit Reitmöglichkeit betreibt. Die alte Ruka („Hütte“) existiert noch und war früher Lebensmittelpunkt: Wohnraum, Küche, Versammlungsort. Heute wird sie nur noch zum Asado, dem beliebten Grillen genutzt. Margot zeigt uns kinderkopfgroße Früchte des Araukarien-Baumes. Dessen große Kerne schmecken geröstet einfach herrlich.

Ein Pisco Sour als Aperitif verkürzt das Warten auf den Sonnenuntergang im Valle de la Luna in der nordchilenischen Atacamawüste.
Ein Pisco Sour als Aperitif verkürzt das Warten auf den Sonnenuntergang im Valle de la Luna in der nordchilenischen Atacamawüste.
Foto: Olaf Goebel

Zurück nach Pucón, dem quirligen Städtchen in der „Chilenischen Schweiz“. Im Sommer zieht es Chilenen und Touristen gleichermaßen an. Die Straßen sind gespickt mit Outdoorgeschäften, Agenturen und Lokalen. Der Kuchen heißt hier auch Kuchen, und im Café Oma schmeckt der Cappuccino fantastisch. Schräg gegenüber haben Elke und Ulli ihren weißblauen „Biergarten“ mit deftiger Küche eröffnet. Ulli arrangiert Ausflüge, und die patente Norddeutsche im feschen Dirndl hat ruck, zuck eine Gerstensaft-Testreihe vor uns aufgebaut. Das Rennen macht das Bockbier der Brauerei Kunstmann – natürlich nach deutschem Reinheitsgebot.

Die nächsten Tage heißt es Natur pur. Was wäre der Regenwald ohne Regen – aber der Huerquehue-Nationalpark mit seinen Seen auf 1350 Meter ist den rutschigen Aufstieg wert. Wir starten auf 780 Meter Höhe über Baumwurzeln, Stege und kleine Holzleitern. Die riesigen Araukarien breiten zwischen den Seen Laguna Toro und Verde ihre Schirme über uns. Selbst in steile Felswände haben sich die Wurzeln geschlagen. Mächtige Nalca-Pflanzen sind eine Art Riesenrhabarber, deren Stängel den Weg in die regionale Küche finden. Reichlich versorgt, donnern Wasserfälle in die Tiefe. Bei der Rückkehr blinzelt etwas schadenfroh die Sonne hervor.

Der Vulkan Villarrica (2840 Meter), Namenspatron der nahegelegenen Stadt und des Sees, hält sich mit Nebel bedeckt. „Das wird wohl nichts mit dem Aufstieg“, meint der Tourguide abends. Um 6.30 Uhr in der Früh klingelt das Telefon mit der Absage: „Waschküche am Berg!“ Hotelier Rodrigo Alvarado Goldammer, der bei seiner Ahnensuche bereits bis in den Freistaat Bayern vorgestoßen ist, packt Interessierte in seinen kleinen Bus. Auf der Schotterpiste nähern wir uns der Skipiste am Villarrica. Dort ist Schluss, aber die unterwegs passierten Lavafelder und Bimsablagerungen sind schon sehenswert. Anfang März spuckte der Villarrica wieder Dampf und Lava.

Vulkan Nummer zwei macht weiter südlich alles wett. Der Osorno (2652 Meter), der den Llanquihue-See überragt, präsentiert sich mit Schneekuppe im blauen Himmel. Schnell haben sich Nebelfetzen bei der Tour durch die Lavafelder verzogen. Entlang des Sees stößt man überall auf deutsche Spuren. Lebendig werden diese in Frutillar nahe Puerto Varas im Deutschen Kolonialmuseum: Mühle, Schmiede, Wohnhaus, Remise mit Lanz-Dreschmaschine wurden originalgetreu aufgebaut. 1840 trecken erste deutsche Siedler in die Region. „Es war nichts hier, alles mussten wir uns selbst erarbeiten“, heißt es auf einer Tafel.

Fünf Flugstunden später im Norden Chiles: San Pedro in der Atacamawüste. Eine pulsierende Oase. Tausende, meist Rucksacktouristen, fallen hier ein und schwärmen zu den Höhepunkten aus. Auch wir schaukeln mit dem Bus 80 Kilometer weit die Berge hoch zu den Geysiren El Tatio auf 4320 Meter. Zum Sonnenaufgang zischt und brodelt es aus dem Taleinschnitt. Aus der Entfernung beobachten Vicunias, eine Lama-Rasse, das Schauspiel. Zu den heißen Bädern von Puritama führt uns Gonzalo Stengl. Der gelernte Meeresbiologe und Naturschützer hat deutsche Ahnen und die DDR in ihren letzten Zügen erlebt. Bevor wir uns in den Naturbecken aalen können, wandern wir dorthin über Stock und Stein durch die Guatinschlucht. Unterwegs schlägt Gonzalos Stunde als Pflanzen- und Kräuterexperte, da dauert die Tour eben etwas länger.

Szenenwechsel: Flamingos staksen durch die Laguna Chaxa. Die blaue Wasserfläche gehört zum riesigen unterirdischen Atacama-Salzsee. Wie Schnee leuchten die verdunsteten Salzkristalle. Abends ruckeln wir über die Salzpiste dem Sonnenuntergang im Valle de la Luna („Tal des Mondes“) entgegen. Das Tal an der Salzkordillere wird in ein bizarres Farben- und Schattenspiel getaucht. Bis auf die Anden-Vulkane reicht der Blick. Bei einem Pisco Sour nehmen wir Abschied von der Atacama.

Santiago de Chile, kurz vor dem Heimflug. Im Trubel der Markthalle klopft mir ein Kellner auf die Schulter: „Deutsch?“ Meinem Ja folgt sogleich die Frage: „Kennen Sie Norbert Blüm?“ Ich nicke, und dann rattert er dessen Bonner Südstadtadresse herunter. „Ich bin der Jorge, der hat mich aus dem Gefängnis geholt …“ Ein Kellnerkollege winkt. Ich hätte gern noch mehr von Jorge und Nobby gehört.