Seebrücken sind gut für Selfies: Auf zwei Rädern durch die Karibik des Ostens
Aufgrund der Wetterbedingungen empfehlen Ortskundige, den Ostsee-Radweg von West nach Ost in Angriff zu nehmen. In den Morgenstunden lacht die Radfahrer deshalb die Sonne an. Ben Zuckers Hit „Der Sonne entgegen“ muss in diesen Momenten bei den ersten kraftvollen Tritten in die Pedale entstanden sein ...
Als optimaler Startpunkt für eine Tour auf dem Ostseeradweg erweist sich Lübeck. Die Hansestadt ist gut zu erreichen, und der Besuch der Altstadt veredelt den Anreisetag. Zu viel Marzipan sollten die Reisenden aber nicht naschen, schließlich fällt am nächsten Morgen der Startschuss für die sportliche Herausforderung. Es empfiehlt sich angesichts des ambitionierten Tagesprogramms, zeitig die Taschen zu packen und auf den Sattel zu steigen. Allerdings sollten die Radfahrer auch nicht auf Rekordjagd gehen und sich den Tag gut einteilen. Der Weg ist an den folgenden vier Tagen das Ziel.
Von Lübeck aus geht es quasi zum Einrollen nach Travemünde. Dort ist erstmals ein Blick auf die Ostsee zu erhaschen. Zwei (kleine) Umwege sollten die Radler keineswegs scheuen. Der ausgeschilderte Panoramaweg gibt einige tolle Blicke auf das Hafengelände frei. Und vor dem Übersetzen mit der Fähre darf ein Abstecher an den Strand nicht fehlen. Er führt mitten durch die belebte Flaniermeile Travemündes und am ältesten deutschen Leuchtturm vorbei. Die Strandpromenade von Travemünde ist so breit, dass dort das Radfahren erlaubt ist – im Gegensatz zu vielen anderen Promenaden. Mit ein bisschen Rücksicht klappt das wunderbar. Die Wartezeit auf die Fähre wird von einem kleinen Markt mit regionalen Produkten, der sich direkt am Anleger befindet, versüßt. Auf der anderen Seite der Trave beginnt ein langer, ruhiger Strandabschnitt. Er lädt direkt mal dazu ein, die Füße ins Wasser zu strecken. Für das Rad – und das gilt für die gesamte Strecke – findet sich überall ein Abstellplatz.
An diesem Strandabschnitt verlief einst der Eiserne Vorhang. Wir entdecken nun also Mecklenburg-Vorpommern und damit die Region, die sich seit dem Mauerfall vor 30 Jahren zu einem der beliebtesten Urlaubsgebiete der Deutschen gemausert hat.
Auf den folgenden Kilometern sehen, riechen und spüren die Radfahrer die Ostsee – dank der Nähe entsteht eine natürliche Verbindung zum „deutschen Ozean“. Ach ja, und schmecken lässt sich die Region auch. „Ich habe noch nie an einem Tag so viele verschiedene Früchte genascht“, erzählt Herrmann, ehe er sein E-Bike wieder in Schwung bringt. Beeren aller Art, Äpfel, aber auch Zwetschgen lassen sich unterwegs finden und laden zur Stärkung ein. Schließlich befahren wir eine Steilküste, heißt: Die eine oder andere Steigung muss bewältigt werden, Höhenmeter kommen zu den Entfernungskilometern hinzu. Und auch der Untergrund ist nicht immer eben, der eine oder andere Abschnitt führt über Schotter und durch Waldgebiete. Ein Rennrad wäre da das falsche Vehikel. Kurz vor dem Trubel Boltenhagens biegen wir zu einer Ruheoase ab: Das Café House Karin hat sich auf Dinkelprodukte spezialisiert, die Kuchenkarte wechselt täglich, und der leckere Windbeutel ist eine (Kalorien-)Bombe.
Nach der Stärkung geht es hinunter nach Boltenhagen, dem Startschuss für eine besondere Sammelaktion: Selfies auf der Seebrücke. „Kennst du eine, kennst du alle“, sagen die einen. „Jede hat ihr eigenes Flair“, die anderen. Der Hype setzt sich in den nächsten Tagen fort: Ran an die Brücke, Rad abstellen und an der Spitze ein Foto schießen.
Doch der Radweg hat neben Ostseebädern noch mehr zu bieten, urbane Sehenswürdigkeiten beispielsweise. Die Hansestadt Wismar ist eine solche Stadt, die eine sehenswerte Altstadt, ein sich ständig veränderndes Hafengelände und die älteste Karstadt-Filiale Deutschlands in sich vereint. Pflicht ist ein Fischbrötchen am Hafen direkt vom Kutter.
Die idyllische Insel Poel kurz hinter der Großstadt ist einen rund zehn Kilometer langen Abstecher wert, ehe wieder die Ostseebäder locken. Rerik macht den Anfang. Es ist toll zu sehen, wie sich die Bäder herausgeputzt haben und mit sonnenüberfluteten Plätzen, idyllischen Häfen, endlosen Stränden und Seebrücken punkten wollen. Bevor wir die Ostseeperle Kühlungsborn ansteuern, lohnt es sich, den Leuchtturm in Bastorf zu besteigen. Sein Besuch kostet sechs Kilometer Umweg, entlohnt aber mit einem atemberaubenden Blick in die gesamte Region. Auch Kühlungsborn ist von oben zu erkennen. Und dorthin radeln wir nun mit Karacho. Der lang gezogene Ort bietet viel mehr als einen kilometerlangen Strand und eine breite Promenade. Die Ostseeallee brilliert mit Prachtbauten. Vom Radweg aus sind die architektonischen Meisterwerke zu bewundern. Am Ortsausgang verzückt zudem der moderne Jachthafen. Auch in Heiligendamm tut sich einiges. Der Kontrast zwischen dem ehrfürchtigen Grand Hotel und den Ruinen aus DDR-Zeiten nebenan hatte sich zu einem Anziehungspunkt entwickelt, doch mittlerweile entstehen dort moderne Wohn- und Ferienanlagen.
Die sind in Warnemünde längst zu finden. Der verlängerte Arm von Rostock besticht neben einem traumhaft breiten und feinen Sandstrand auch noch mit seinem Hafenflair. Kreuzfahrtschiffe, Tanker, aber auch ein schnuckeliger historischer Abschnitt sind ein Farbtupfer, ehe wir uns dem Fischland Darß nähern. Es steht für Strände ohne Ende – die Karibik des Ostens. Nun muss der Handyakku wieder Höchstleistung bringen, denn Seebrücken gibt es auf diesem Abschnitt wie Quallen, Strandkörbe und Fischbrötchenstände. In Graal-Müritz, Wustrow, Prerow und Zingst können sich die Besucher den Wind um die Ohren wehen lassen und einen Blick von Meeresseite aus aufs Land riskieren. Die Wege zwischen den Seebädern sind gut zu befahren, und überall gibt es zahlreiche Möglichkeiten, das Rad auch mal stehen zu lassen und ein Sandpeeling an den Füßen bei einem Strandspaziergang zu genießen.
Herzstück des Fischlands ist das Künstlerdorf Ahrenshoop – dort ist aber Schieben oder Spazieren angesagt, zu voll ist es im Sommer in einem Ort, in dem an jeder Ecke ein Kunstwerk wartet. Prerow gilt als Geheimtipp. Die Wasser- und Waldlandschaft Prerower Strom zwischen Ort und Strand unterstreicht das kilometerlange Sandidyll. Eine Dinkelwaffel in Peters Waffelbar ist zur Stärkung Pflicht.
Hinter Zingst verabschiedet sich der Ostsee-Radweg von seiner Namensgeberin. Vorbei an Barth geht es an der Boddenküste entlang, durch Schilfgebiete und über Alleen in Richtung Stralsund, dem Zielort der sportiven Variante, die Ostsee auf zwei Rädern zu erobern. Am Tor nach Rügen lassen sich auf sehenswerten Plätzen und im Schatten ehrwürdiger Gebäude die Erlebnisse der vergangenen Tage noch einmal aufarbeiten.