Blick in die nordirische Geschichte: Bloody Sunday und Halloween in LegenDerry
Oktober 2019: Es ist ganz still im Museum of Free Derry, als John Kelly über die Ermordung seines kleinen Bruders Michael redet. „Das hat mein Leben für immer verändert“, wird auch John ganz leise. Seine Mutter habe Michaels Tod nie wirklich verarbeiten können. Vielleicht deshalb nicht, weil sie sich schuldig fühlte: Sie hatte Michael zunächst verboten mitzumarschieren.
Weil sie ihrem Sohn aber nicht den Ruf des Muttersöhnchens einbrocken will, gibt sie schließlich nach. Doch folgt sie Michael heimlich zum Protestmarsch, behält ihn im Auge wie eine Löwin ihr Junges. Im Gedränge verliert sie ihn schließlich doch aus den Augen. Fünf Jahre lang bringt sie Michael täglich eine Decke ans Grab. „Michael friert bestimmt, hat sie immer gesagt“, wird John emotional.
Der Schmerz von damals ist heute noch zu spüren
Ich hatte die grüne Insel bereits mehrfach bereist und mich mit dem Nordirlandkonflikt, den „Troubles“, auseinandergesetzt. Deshalb hatte ich angenommen, die Problematik durchstiegen zu haben. Mir war bewusst, dass Religion und Politik dabei eine große Rolle spielen: Nach dem Irischen Unabhängigkeitskrieg wurde die grüne Insel 1921 in zwei Länder gespalten. Katholiken wurden in Nordirland gezielt bei Wohnungs- und Arbeitssuche benachteiligt. Von da an hieß es Protestanten gegen Katholiken.
Und: Die, die dem Vereinigten Königreich treu ergeben sind und von Zuwanderern abstammen, gegen die, die ein vereintes, unabhängiges Irland fordern. Doch waren es nicht die geschichtlichen Fakten, sondern der Schmerz in John Kellys Stimme, der mich wirklich verstehen ließ.
Die Irisch-Republikanische Armee, kurz IRA, die mit Waffengewalt für die Unabhängigkeit Nordirlands vom Vereinigten Königreich kämpfte, hatte versprochen, den Protestmärschen im Januar 1972 fernzubleiben. General Ford, der kommandierende Offizier der britischen Armee in Derry-Londonderry, lässt am 30. Januar 26 Straßenbarrieren errichten.
Auch ordert er die Elite-Fallschirmjägereinheit der britischen Armee in die Stadt. Als der Marsch die Barrikaden erreicht, kommt es zu Ausschreitungen: Steine und Flaschen fliegen, Plastikmunition, CS-Gas und eine Wasserkanone sind die Antwort der britischen Armee. Abseits der Auseinandersetzungen eröffnen die Fallschirmjäger das Feuer mit scharfer Munition. Die Lage eskaliert.
„Was am Blutsonntag geschah, war ungerechtfertigt. Es war falsch.“
Ex-Premierminister David Cameron im Jahr 2010
Ich bin soeben in Dublin gelandet und sitze nun im Taxi nach Derry-Londonderry. Mein Fahrer Wayne kommt aus Belfast. Er ist der Typ Mensch, mit dem man gern mal ein Guinness am Tresen trinken will. „Katholiken nennen den Ort meist Derry, Protestanten nennen ihn meist Londonderry“, klärt Wayne mich auf. „Der Fluss Foyle trennt die beiden Parteien. Auf der einen Seite wohnen die Katholiken, auf der anderen die Protestanten. Das City Hotel, wo du unterkommst, ist auf katholischer Seite.
Die Katholiken sind deutlich in der Mehrheit in der Stadt.“ Vor Ort stelle ich aber fest, dass viele Einheimische die Stadt als Zeichen des Friedens „LegenDerry“ nennen – angelehnt an das englische Wort „legendary“, zu Deutsch: „legendär“.
Britische Fallschirmjäger erschießen am „Bloody Sunday“ 13 Zivilisten, 15 werden schwer verletzt, einer von ihnen erliegt einige Monate später seinen Verletzungen. Die britische Regierung verteidigt das Massaker jahrelang als gerechtfertigt: Schließlich seien die Opfer bewaffnet gewesen. Doch das stimmte nicht.
„Der Blutsonntag hat viele Iren dazu inspiriert, sich der IRA anzuschließen“, seufzt John Kelly. Dass Michael und die anderen Opfer bewaffnet waren, wird nach 38 Jahren auch seitens der britischen Regierung negiert. Der englische Premierminister David Cameron entschuldigt sich 2010 bei den Angehörigen der Opfer: „Was am Blutsonntag geschah, war ungerechtfertigt. Es war falsch.“
In der Stadt herrscht nun eine friedliche Koexistenz
Stadtführer Ruairi O'Heara erklärt mir, dass Derry den Namen Londonderry erhalten hatte, weil Investoren aus London den Bau der Stadtmauer im 17. Jahrhundert finanziert hatten. Derry-Londonderry sei die einzige Stadt mit vollständig erhaltenen Stadtmauern auf der ganzen grünen Insel.
Während meines Spazierganges kommen mir auf der Mauer lachende Vampire, Piraten, Skelette und Hexen entgegen – denn heute ist Halloween. Derry-Londonderry hat sich seit den „Troubles“ stark verändert. „Es ist unglaublich, was sich hier in den vergangenen 25 Jahren getan hat“, erklärt Ruairi stolz.
Befragt man Einheimische zu den Grauen der Vergangenheit, erhält man immer die gleiche Antwort: Dass man endlich in Frieden koexistieren könne, das sei ein Geschenk, das man nie mehr missen wolle.
Voller Wut, Trauer und Unverständnis blicke man deshalb auf die schreckliche Tat der „Neuen IRA“, deren Anhänger in der Stadt eine Minderheit ausmachen: Die nordirische Journalistin Lyra McKee (29) wurde im April 2019 von einem vermummten Mitglied erschossen. Die Polizei hatte in dem Viertel nach Waffen gesucht – die Situation geriet aus dem Ruder. Arlene Foster von der Democratic Unionist Party (DUP), der größten protestantischen Partei in Nordirland, und Michelle O'Neill von der Partei Sinn Féin, die von den Katholiken in Nordirland gewählt wird, verurteilen die Tat bei der Beisetzung der jungen Journalistin auf das Schärfste.
Halloween in Derry: Ein finsteres Karnevalsfest, kombiniert mit einem Silvesterfeuerwerk
Ich schlüpfe in mein Wikingerkostüm. Im Foyer des City Hotels warten Boris und Gail auf mich. Boris ist Journalist aus Hongkong. Er ist drei Köpfe kleiner als ich, 40, sieht aber aus wie 20 – und ist ein Spaßvogel. Boris hat sich in ein Sträflingskostüm gehüllt und hält eine Spielzeug-Kettensäge in den Händen. Genialer Anblick! Gail (69) ist eine herzensgute Journalistin aus Manhattan. Sie trägt eine Frankenstein-Maske, durch die sie kaum atmen kann.
Mit Tausenden anderen Verkleideten schlendern wir durch die Nacht. Auf den Stadtmauern tummeln sich Feuerspucker und Feuerjongleure. Vor mir stoppt ein als Mönch verkleideter Schausteller eine junge Frau: „Sie ist eine Hexe!“ Als die Halloween-Parade durch die Stadt beginnt, habe ich Gail und Boris aus den Augen verloren.
Halloween in Derry-Londonderry: Das ist wie ein finsteres Karnevalsfest, kombiniert mit einem Silvesterfeuerwerk am Ende der Parade. Als die letzten Raketen gezündet sind, mache ich mich allein auf in den ersten Pub. Auf eine legendäre Nacht in LegenDerry!
„Heute Nacht können wir eins sein!“
Sperrstunde: Hexen und Vampire werden gebeten, die Pubs zu verlassen. „Du auch, Wikinger. Schluss jetzt!“, ruft mir der Barkeeper zu. Es fängt an zu regnen, der Wind bläst mir das nasse Kalt ins Gesicht – endlich echtes irisches Wetter! Ich mache mir Musik an, und wandere durch die Straßen, in denen vor 47 Jahren vielen Unschuldigen das Leben genommen wurde.
An der Hauswand des Museum of Free Derry mache ich halt. Wenige Stunden zuvor hatte John Kelly mir dort Einschusslöcher gezeigt, die vom „Bloody Sunday“ stammen. Das Schlagzeugintro von „Sunday Bloody Sunday“ ertönt plötzlich. Bono von U2 schreit in die Nacht: „Heute Nacht können wir eins sein!“ Genau diesen Eindruck habe ich bei meiner Reise gewinnen können. Freundlich wurde ich von Katholiken und Protestanten empfangen. Gemeinsam haben wir getrunken, getanzt und gelacht. Viel habe ich gelernt. Und ich werde wiederkommen ...