Von unserem Reporter Eugen Lambrecht
Früher ging Senem gerne spazieren. Seit dem 29. Juli traute sie sich vier Wochen lang nur für eine Zigarette auf den Balkon. Früher wünschte sich Senem für ihre Familie ein Eigenheim mit großem Garten. Seit dem 29. Juli sucht sie nach einer Wohnung in einem hoch gelegenen Stockwerk. Früher las sie in der Zeitung von Wohnungseinbrüchen und dachte sich: „Gott sei Dank leben wir in Koblenz-Güls.“ Seit dem 29. Juli weiß sie es besser: Es kann jeden treffen. Überall. Zu jeder Zeit.
Denn seit fünf Jahren steigt die Zahl der Wohnungsbrüche in Koblenz kontinuierlich an. 2015 konnte die Polizei nur jeden siebten Fall aufklären. Zum Leid der Opfer: Denn die Ungewissheit stärkt die Angst. Dabei ist es häufig nicht der materielle Verlust, der schwer wiegt, sondern das Gefühl, in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher zu sein.
Auch in der Nacht zum 29. Juli konnte Senem verhindern, dass der Mann, der durch die Tür in ihre Wohnung eindrang, etwas stehlen konnte. Und doch hat sich für die Familie seitdem vieles geändert: Senems Tochter traute sich nicht mehr alleine in die Wohnung. Ihre Mutter hatte zwei Tage nach dem Einbruch einen Herzinfarkt. Ihr Vater fotografierte wildfremde Menschen auf der Straße, zeigte ihr die Bilder: „War das der?“ Vor allem aber ist es Senem selbst, die sich schwer damit tut, den Schock zu verarbeiten.
Den Abend des 28. Juli 2016 verbringt Senem bei ihren Eltern. Die Familie isst, lacht, hat einen angenehmen Abend. Gegen Mitternacht gehen sie und ihr Ehemann in ihre gemeinsame Wohnung, nur ein Stockwerk höher. Auch ihr Bruder wohnt im selben Mehrfamilienhaus in Koblenz-Güls. Sie sind hier seit acht Jahren zu Hause, haben sich immer sicher gefühlt. Die Eingangstür des Mehrfamilienhauses wurde nachts nie abgeschlossen, ebenso wenig die Wohnungstür. Wozu auch? Was soll schon passieren?
Eine folgenschwere Begegnung
Die Tochter schläft bereits, ebenso der Sohn. So legt sich auch das Ehepaar an diesem Sommerabend ins Bett. Sie lassen die Balkontür geöffnet, die Fenster gekippt. Zwei Stunden später wacht Senem auf, sucht den Weg zur Toilette. Sie lässt das Licht ausgeschaltet, will niemanden wecken. Durch das Wohnzimmer erblickt sie in ihrem Flur das Flackern einer Taschenlampe. Sie denkt sich nichts dabei, geht darauf zu. Doch dann erkennt sie einen schlaksigen Mann mit gelocktem Haar, er zieht ein Messer. Die Frau ist wie versteinert, verstummt vor Angst. Der Einbrecher fuchtelt das Messer in ihre Richtung, streift sie damit am Hals, stößt sie zurück – und flieht aus der Haustür. Senem sackt zu Boden. Sie weint, sie schreit. Ihr Mann stürmt aus dem Schlafzimmer herbei, ebenso der Sohn. Sie versuchen die Familienmutter zu beruhigen, wissen nicht, was geschehen ist. „Einbrecher, Einbrecher“, stammelt sie.
Bis heute gelangen der Polizei keine nennenswerten Fortschritte bei den Ermittlungen. Die Familie lebt nach wie vor in Angst. „Wenn ich darüber spreche, beginne ich zu zittern“, sagt die 39-Jährige. Der Vorfall verfolgt sie, häufig muss sie an den Geruch des Täters zurückdenken. „Dieser beißende Gestank geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“ Senem berichtet von Angstzuständen, glaubt, paranoid zu sein. Sie geht zur Psychotherapie, nimmt Beruhigungsmittel und Schlaftabletten. Auch vier Wochen nach dem Einbruch wollte sie ihre eigene Wohnung nicht betreten, schlief nachts bei ihren Eltern. Der Therapeut rät ihr davon ab, doch sie will schnellstmöglich umziehen. „Wenn ich hier reinkomme, ist das ein Horrorfilm.“
Senems und ihr Mann schauen nach Alarmanlagen, recherchieren im Internet nach Möglichkeiten, wie sie ihre Wohnung sicherer machen können. Die Türen schließen sie nun ab, die Fenster lassen sie zu. Eine Nachbarsfamilie macht jeden Abend einen Kontrollgang um das Haus. Die Polizei fährt jetzt öfter Nachtstreife in Güls. Doch sicherer fühlt sich Senem dadurch nicht. Manchmal denkt sie: „Ich habe den Dieb erwischt und Schlimmeres verhindert.“ Doch dann kommt die Sorge: „Was, wenn er wiederkommt?“ Und: „Hätte er lieber alles leergeräumt, während wir geschlafen haben, dann hätte ich ihn wenigstens nicht sehen müssen.“
Die Familie will vergessen, wieder leben wie früher. Doch solange der Täter nicht gefasst ist, fällt ihnen dieser Schritt schwer. Senem geht zwar wieder arbeiten, doch der fünfminütige Fußweg vom Auto zum Arbeitsplatz ist eine Tortur. Sie versucht sich mittlerweile wieder an ihre Wohnung zu gewöhnen, schläft wieder in ihrem Bett – auch, wenn sie stündlich unter Panik aufwacht. Senem und ihr Mann spekulieren darüber, ob er sie beobachtet hat, ob es ein Profi gewesen ist, wie er das Schloss der Haustür knacken konnte. Sie fragen sich: Wieso wir?
Senem ist eine starke Frau, sie betont, nie ein ängstlicher Mensch gewesen zu sein: „Ich ging auch um 4 Uhr nachts alleine spazieren, gar kein Problem.“ Doch das hat sich nun geändert. Ihr Selbstbild ist angeknackst. Sie versucht stark zu bleiben, vor allem für ihre Kinder. Kürzlich überredete ihre Tochter sie, mit ins Café zu kommen. Doch nach zehn Minuten wurde ihr das zu viel, sie flüchtete in die Wohnung ihrer Eltern. „Ich dachte immer, solche Geschichten seien übertrieben. Aber dann passiert es einem selbst. Und man merkt, wie schlimm das ist.“