Rheinland-Pfalz
Sprache ist der Knackpunkt, aber nicht alles: Neue Akzente in der rheinland-pfälzischen Bildungspolitik
Kindertagesstätte
Mit neuen Akzenten will die Landesregierung gegensteuern. Und dabei schon in der Kita ansetzen.
Julian Stratenschulte. dpa

Längst nicht alle Kinder, die in die erste Schulklasse kommen, bringen alle Fähigkeiten mit, die sie eigentlich brauchen - bei vielen sind die Deutsch-Kenntnisse nicht ausreichend, doch es geht um mehr. Mit neuen Akzenten will die Landesregierung gegensteuern. Und dabei schon in der Kita ansetzen. Ein Überblick über die aktuelle Lage - und das, was Kita- und Lehrerverbände fordern.

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In der rheinland-pfälzischen Landespolitik ging es zuletzt immer öfter um Bildungspolitik. In seiner nun mehr als 100 Tage umfassenden Amtszeit als neuer Ministerpräsident machte Alexander Schweitzer (SPD) sie immer wieder zum Thema. Zum Beispiel bei seiner Regierungserklärung, zum Beispiel beim Schlagabtausch in der Haushaltsgeneraldebatte mit CDU-Oppositionsführer Gordon Schnieder. Der Regierungschef, der mit einer Realschullehrerin verheiratet ist, sieht offenbar Handlungsbedarf – und kündigte einige Neuerungen an. Wir beantworten zehn Fragen dazu.

1Kinder werden ab sofort mit viereinhalb Jahren zur Schule angemeldet. Diese Änderung für den Grundschulbereich stellte die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) bereits im vergangenen Sommer vor. Die Sprachstandserhebung für die Kinder, die keine Kindertagesstätte (Kita) besuchen, findet bei der Schulanmeldung statt. Reichen die Deutschkenntnisse nicht aus, müssen die kleinen Rheinland-Pfälzer an einer Sprachförderung teilnehmen und mindestens 15 Stunden pro Woche eine Kita besuchen. Wie viele Kinder im Land betrifft das?

Bei der Anmeldung für dieses Schuljahr konnte für 800 Kinder kein Kita-Besuch nachgewiesen werden, im Schuljahr davor waren es 700. Dies entspricht nach Angaben des Bildungsministeriums bei einer Zahl von mehr als 41.000 Erstklässlern einem Anteil von unter 2 Prozent. Für die Kinder erfolgt in einem ersten Schritt die Sprachstandsfeststellung und danach eine Entscheidung über eine womöglich notwendige Sprachförderung. Das Ziel ist klar: Kinder in Rheinland-Pfalz müssen die deutsche Sprache lernen. Das erklärte auch der Ministerpräsident im Landtag.

Ministerpräsident Schweitzer besucht Feriensprachkurse
In der rheinland-pfälzischen Landespolitik ging es zuletzt immer öfter um Bildungspolitik. In seiner nun mehr als 100 Tage umfassenden Amtszeit als neuer Ministerpräsident machte Alexander Schweitzer (SPD) - hier beim Besuch eines Feriensprachkurses in Bernkastel-Kues mit Bildungsministerin Stefanie (Hubig (SPD) - sie immer wieder zum Thema.
Harald Tittel. picture alliance/dpa/Staatskanzl

2Wie viele der getesteten Kinder haben denn einen Sprachförderbedarf?

Nach Auskunft des Bildungsministeriums hatten im vergangenen Jahr und haben aktuell 300 der getesteten Kinder einen Sprachförderbedarf. Laut Ministerium wird der Anteil derjenigen Kinder, deren Deutsch nicht ausreichend ist, auf circa 20 Prozent eines gesamten Jahrgangs geschätzt.

3Wie wird gewährleistet, dass diejenigen Kinder eine Kita besuchen können, die nicht über ausreichend Deutschkenntnisse verfügen, wenn jetzt schon vielerorts Kita-Plätze fehlen?

Ein Ministeriumssprecher verweist bei dieser Frage auf die seit mehr als 30 Jahren gültige Pflicht der Jugendämter, darauf hinzuwirken, dass Kinder im letzten Jahr vor der Schule eine Kita besuchen. Deshalb müssten die Kommunen und Kita-Träger auch heute schon Plätze vorhalten, zum Beispiel auch für den Fall, dass Familien und Kinder zuziehen. Bei der Platzvergabe seien Kinder mit einem bei der Schulanmeldung festgestellten Sprachförderbedarf als Erstes zu berücksichtigen, so der Sprecher.

Fakt ist allerdings auch, dass Kita-Plätze im ganzen Land fehlen. Laut Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung geht es um rund 430.000 Betreuungsplätze. Der Stiftung zufolge ist der Platzmangel in Westdeutschland besonders hoch.

Kindertagesstätte
Mit neuen Akzenten will die Landesregierung gegensteuern. Und dabei schon in der Kita ansetzen.
Sebastian Kahnert. dpa

4Ab dem Schuljahr 2026/2027 soll stufenweise dann der Sprachstand aller Viereinhalb-Jährigen erfasst werden. Das ist eine Neuerung, die der Ministerpräsident ankündigte. Wer übernimmt das Ganze?

Der Sprachstand der Kinder soll nach Ministeriumsangaben von den pädagogischen Fachkräften in den Kitas ermittelt werden. Man strebe ein Verfahren an, „das unsere Fachkräfte alltagsintegriert und mit möglichst wenig Arbeitsaufwand umsetzen können“. Das gebe es aktuell noch nicht. Daher berate sich das Ministerium derzeit mit Wissenschaft und Praxis. Ministerpräsident Schweitzer begründete diese Veränderung mit neuen Herausforderungen an den Schulen durch eine heterogene Schülerschaft – auch infolge von Zuwanderung.

5Was ist noch neu?

Neu ist auch, dass das Land zunächst 350 Kitas in sogenannter herausfordernder Lage auswählen wird und dort Sprachbeauftragte bis zu fünf Stunden pro Woche freistellen wird, vom Land anteilig finanziert. Geplant ist, Kindertageseinrichtungen auszuwählen, die im Einzugsgebiet von Grundschulen liegen, die sich am neuen Startchancen-Programm beteiligen.

Sprachbeauftragte unterstützen Erzieher bei der alltagsintegrierten Sprachbildung, geben den Kollegen Impulse und Hilfestellungen. Laut Kita-Gesetz sollen eigentlich alle Kitas einen Sprachbeauftragten haben. Nach Angaben des Hubig-Hauses gibt es allerdings erst in mehr als der Hälfte der rund 2600 Kitas im Bundesland solche Beauftragte.

6Also räumt das Bildungsministerium mit dem klaren Sprachmaßnahmen-Fokus ein, dass das sogenannte Sprachbad nicht funktioniert? Und was bedeutet überhaupt Sprachbad?

Ja, in gewisser Weise schon. Ministerpräsident Schweitzer sagte während seiner Sommerreise beim Besuch einer Schule in Koblenz, an der 80 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache sprechen, dass dann das „Moment des Sprachbads“ nicht mehr funktioniere. Bildungsministerin Hubig erklärt: „Die Sprachbildung ist eines unserer drängendsten Probleme.“

Sprachbad bedeutet, dass Kinder, die kein Deutsch sprechen können, es in einer Gruppe, in der viel oder ausschließlich Deutsch gesprochen wird, leicht lernen – weil sie sozusagen von Kindern mit sehr guten oder guten Deutschkenntnissen umgeben sind und von ihnen lernen. Dies ändert sich logischerweise, wenn der Anteil derjenigen Kinder und Jugendlichen mit guten Deutschfähigkeiten sinkt. Claudia Theobald, Vorsitzende des Kita-Fachkräfteverbands Rheinland-Pfalz sagt: „Auch in Kitas, die nicht in Brennpunkten liegen, funktioniert das Sprachbad nur sehr eingeschränkt.“

Die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig
Für die Bildungspolitik im Land ist Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) zuständig.
Andreas Arnold/dpa

7Die Bildungsministerin verabschiedet sich aber damit nicht vom Konzept der alltagsintegrierten Sprachförderung in den Kitas, auf das Rheinland-Pfalz setzt?

Nein. Der Sprecher von Stefanie Hubig betont, dass zwischen dem Sprachbad und der alltagsintegrierten Sprachförderung zu unterscheiden sei. Dieses Konzept sieht vor, dass Erzieher bei allen möglichen Kita-Alltagssituationen Gespräche mit den Kleinen führen sollen – nebenbei, zum Beispiel beim Frischmachen oder Wickeln, beim Essen zubereiten und so weiter. Das Mainzer Ministerium ist von diesem Konzept nach wie vor überzeugt.

8Reichen denn Sprachbeauftragte für 350 Kitas aus? Und sind die Einrichtungen schon ausgewählt worden?

Nein, ausgewählt sind sie noch nicht. Zur Frage, ob das ausreicht, antwortet die Vorsitzende des Kita-Fachkräfteverbands, Claudia Theobald, folgendermaßen: Zusätzliche Personalstunden für frühkindliche Bildung in die Kitas zu geben, sei der richtige Ansatz. Nur: Aus Sicht des Kita-Fachkräfteverbands sind zusätzliche Ressourcen für Sprachförderung in jeder der rund 2600 Kitas in Rheinland-Pfalz nötig. Und: Theobald verweist auf das ausgelaufene Bundesprogramm der Sprach-Kitas. Mit dem Fördergeld konnten Träger jeweils eine halbe Stelle für die Sprachförderung der Kinder finanzieren.

Dieses Programm sah demnach eine halbe Stelle zusätzlich vor, also 19,5 Stunden pro Woche. Bei den Sprachbeauftragten gehe es dagegen lediglich um eine Freistellung von bis zu fünf Stunden pro Woche, kritisiert Theobald. Für die Kita-Kräfte bleibe zu hoffen, „dass das politische Bewusstsein für die Problematik der unzureichenden Rahmenbedienungen wächst und diese Maßnahme ein erster Schritt ist, dem noch viele weitere, die allen Kitas zugutekommen, folgen werden“, sagt die Verbandsvorsitzende.

9Eine weitere Neuerung sieht vor, dass das First-Class-Modell ausgeweitet wird. Es soll zunächst in diesem Jahr an 30 Grundschulen laufen, im darauffolgenden Jahr an 30 weiteren Primarschulen. Wie funktioniert das Modell?

Bisher waren an ausgewählten Schulen, zum Beispiel in Ludwigshafen, Studierende für die ersten sechs Wochen des Schuljahres als zusätzliche Unterstützung in der ersten Klasse tätig. Denn klar ist: Auch hier gab und gibt es akuten Handlungsbedarf. Immer mehr Kinder müssen in Rheinland-Pfalz eine Klasse in der Grundschule wiederholen. In Ludwigshafen ging man im Sommer an der Gräfenauschule davon aus, dass 37 von 147 Kindern die erste Klasse wiederholen müssen. Außerdem bescheinigten Bildungsstudien im vergangenen Jahr Viertklässlern in Deutschland zunehmend Rechtschreib-, Lese- und Mathe-Probleme.

Nun gibt es, wie das Bildungsministerium informiert, eine halbe Stelle mit 13,5 Lehrerwochenstunden für jede der teilnehmenden 30 Schulen, also eine Stelle für zwei Schulen. Nach Angaben des Ministeriums sind alle Stellen besetzt. Über die Verteilung der Stunden entscheiden die Schulen selbst. Die pädagogischen Fachkräfte oder Sprachförderlehrkräfte sollen sich für diejenigen Erstklässler, die noch besonderen Unterstützungsbedarf haben, Zeit nehmen, ihnen auch sogenannte Vorläuferfähigkeiten vermitteln: also Stift oder Schere halten, Regeln beachten, den sozialen Umgang üben.

Lehrerverbände beklagen schon länger, dass immer mehr Kinder mit immer weniger Fähigkeiten in die erste Klasse kommen und mitunter lange brauchen, um dort anzukommen. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) Rheinland-Pfalz fordert deshalb ein verbindliches Schuleingangsjahr für alle Kinder ab fünf Jahren.

Kindertagesstätte
Mit neuen Akzenten will die Landesregierung gegensteuern. Und dabei schon in der Kita ansetzen.
Monika Skolimowska. dpa

10Wer hat die Primarschulen ausgewählt?

Die Auswahl nahm das Bildungsministerium in Absprache mit der Schulaufsicht vor. Das entscheidende Kriterium war laut Ministeriumssprecher, dass sich die Schulen in sozial herausfordernder Lage befinden. Maßgeblich hierfür sind Schüler mit Migrationshintergrund und der Anteil der Schüler, die an der unentgeltlichen Schulbuchausleihe teilnehmen.

In Koblenz sind die Willi-Graf-Grundschule im Stadtteil Neuendorf und die Grundschule Wallersheim dabei, in Neuwied die Marienschule sowie die Grundschule Sonnenland. In Bad Kreuznach machen die Grundschule Hofgartenstraße sowie die Martin-Luther-King-Grundschule mit.

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