Évian-les-Bains

Italien – oder die Kunst, sich neu zu erfinden

Gemeinsam stark: Ausgelassen feierten die italienischen Spieler den Achtelfinal-Triumph gegen die Spanier, wobei Torwart Gianluigi Buffon dieses Mal unfallfrei die Querlatte erklomm. Nach dem 2:0-Auftaktsieg gegen Belgien war er bei seinem Jubel noch unsanft auf den Rücken gefallen.  Foto: dpa
Gemeinsam stark: Ausgelassen feierten die italienischen Spieler den Achtelfinal-Triumph gegen die Spanier, wobei Torwart Gianluigi Buffon dieses Mal unfallfrei die Querlatte erklomm. Nach dem 2:0-Auftaktsieg gegen Belgien war er bei seinem Jubel noch unsanft auf den Rücken gefallen. Foto: dpa

Der italienische Fußball steht bekanntlich für vieles. Der gefürchtete Catenaccio, der Abwehrriegel, an dem sich schon so mancher Gegner die Zähne ausgebissen hat, ist da nur ein Merkmal. Während den einen die Hingabe imponiert, mit der die „Azzurri“ im Spiel zur Sache gehen, schätzen andere wiederum die taktische Raffinesse. All das zusammen hat italienische Nationalmannschaften bei Welt- oder Europameisterschaften schon immer zu einem äußerst unbequemen Gegner gemacht.

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Aus Évian-les-Bains berichtet unser Redakteur Klaus Reimann

Die deutsche Nationalmannschaft kann ein Lied davon singen. Noch nie ist es einer DFB-Auswahl gelungen, die Italiener bei einem Turnier zu besiegen. Im Viertelfinale der Euro 2016 am Samstag (21 Uhr, ARD) in Bordeaux soll sich das ändern. So viel sei gesagt: Die Aufgabe ist nicht leichter geworden. Ein Porträt des italienischen Fußballs der Neuzeit:

Herausragendes Markenzeichen der „Squadra Azzurra“ unter ihrem Trainer Antonio Conte ist die neu hinzu gewonnene Flexibilität im Spiel. Die Mannschaft ist in der Lage, sich taktisch immer wieder neu erfinden zu können. Auch während einer Partie. Die Belgier zermürbten die Italiener im ersten Vorrundenspiel mit ihrer enormen Defensivpräsenz.

Konter mit Wucht und Präzision

Spanien wiederum wurde von einer hoch stehenden und einer das Spiel in die Hand nehmenden Mannschaft überrascht. Verkehrte Fußball-Welt: In dieser Partie hatten die Spanier nur 47 Prozent Ballbesitz. Was beide Spiele gemein haben, kennzeichnet die neue Durchschlagskraft der Italiener im Angriff. Ihre Konter fahren sie mit großer Wucht und Präzision. Und mit gutem Abschluss.

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Joachim Löw jedenfalls imponieren die Stärken beim Viertelfinalgegner. „Diese Konter gilt es unter allen Umständen zu vermeiden. Die Italiener sind längst nicht mehr nur auf die Defensive fokussiert. Sie spielen auch gut nach vorn“, hielt der Bundestrainer am Ruhetag in Évian-les-Bains fest. Derweil die Spieler den freien Tag genossen, lobte Löw die Italiener: „Das ist eine eingespielte Mannschaft mit einer Mischung aus defensiver Stärke und offensiver Klasse.“ Sein Fazit: Diese Mannschaft ist noch besser als die von 2012. Zur Erinnerung: Im Halbfinale der EM gab es seinerzeit ein die deutsche Fußball-Nation ernüchterndes 1:2. Damals noch mit einem überragenden Strippenzieher Andrea Pirlo und dem doppelten Torschützen Mario Balotelli.

Beide Akteure sind diesmal nicht mehr dabei. Pirlo ist zurückgetreten, Balotelli außer Form. Dem italienischen Spiel hat dieser Verlust keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, die Mannschaft ist dadurch noch unberechenbarer geworden, was Offensivspiel und die Rollenverteilung angeht.

Die bei Juventus Turin eingespielte Defensive arbeitet so berechenbar präzise und kompromisslos wie seit ewigen Zeiten. „Das liegt ihnen im Blut. Die Italiener können auch ein 0:0 bejubeln, weil sie die Defensivarbeit von klein auf lernen“, charakterisierte Löw das Wesen der „Squadra Azzurra“. Im Mittelfeld sorgt Haudegen Daniele De Rossi fürs Gleichgewicht. Aber auch der ebenso erfahrene Marco Parolo, Alessandro Florenzi oder Antonio Candreva verstehen es, Akzente zu setzen, das Spiel zu verschleppen oder zu beschleunigen. „Conte hat hier die Qual der Wahl. Auch das zeichnet die Mannschaft aus“, meinte Löw

Im Angriff, vor der EM italienisches Sorgenkind, hat der „Alchimist Conte“, wie ihn die „Gazzetta dello Sport“ nennt, die richtige Mischung gefunden. Und das ausgerechnet mit Graziano Pelle und Eder. Inter Mailands Eder traf in der Rückrunde der Serie A nur zweimal, Pelle vom FC Southampton war außer Form. Jetzt harmonieren beide prächtig und sind torgefährlich.

Löw ist der Respekt vor dem Gegner anzumerken. Aber auch die Zuversicht, es diesmal packen zu können. „Wir werden Lösungen finden und versuchen, unsere Stärken ins Spiel zu bringen“, versprach der Bundestrainer. Und von einem Italien-Trauma wollte Löw schon gar nichts wissen. Aus der schmerzlichen Niederlage von 2012 hat er seine Lehren gezogen. „Die Erkenntnisse haben mir in vielen Spielen danach sehr geholfen. Ich habe ein gutes Gefühl.“ Italien spielt schließlich gegen den Weltmeister. Serie hin oder her.