Köln

Auf der Suche nach der Erfolgsformel

D. Memmert
D. Memmert Foto: picture alliance

An Daniel Memmert heranzukommen, ist nicht so einfach. Der Mann ist sehr gefragt und viel unterwegs – im Auftrag des Fußballs. Unser Anruf erreicht den 44-jährigen Leiter des Instituts für Kognitions- und Spielforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln im Auto. Er ist auf dem Weg zum Flughafen. Ziel: eine der Top-Adressen im Fußball. Memmert trifft sich mit Verantwortlichen des FC Barcelona. Der Spieleforscher als Berater? „Nein, das nicht. Sagen wir es so: Wir stehen in einem kontinuierlichen Austausch“, meint der 44-Jährige, der 2008 mit dem Thema „Kreativität im Sportspiel“ an der Uni Heidelberg habilitierte. Außerdem unterrichtet er an der Universität INEFC Barcelona.

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In Sachen Kreativität ist Memmert selbst ein Getriebener, wie sich im persönlichen Gespräch schnell herausstellt. Was ihn antreibt, ist die Suche nach der Formel für Erfolg im Fußball. Memmert und sein Team von der Sporthochschule in Köln forschen sozusagen mithilfe komplexer Algorithmen. Für Memmert ist dieser Forschungsauftrag längst zur Mission geworden. Eine Mission, die für ihn in der Frage gipfelt: „Welche dynamischen, spieltaktischen Konstellationen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein Tor?“ Das ist natürlich auch bei der EM in Frankreich für die Teams nicht ganz unerheblich.

Den Stoff für diese Erfolgsformel liefern sogenannte Positionsdaten. Jede Position jedes Spielers in jeder Sekunde eines Spiels wird dabei ebenso erfasst wie die Position des Balles. Rund 3,1 Millionen Positionsdaten pro Spiel bilden schließlich die Grundlage für eine moderne Spielanalyse. Big Data ist längst angekommen im schönen, neuen Fußball-Zeitalter. Die Kunst besteht darin, aus diesem Wust an Informationen das Wesentliche herauszufiltern und Muster erkennbar zu machen. „Wir fahnden nach taktischen Mustern für torgefährliche Spielsituationen“, konkretisiert Memmert seine Arbeit.

Auch wenn die heutige Sportspielforschung längst nicht mehr Tafel und Kreide zur Hand nimmt, mündet für die Fußball-Wissenschaftler doch alles in der zentralen Frage: Wie kommt man am besten und am schnellsten vor das gegnerische Tor und schließlich zu einem Treffer? Fotos: dpa
Auch wenn die heutige Sportspielforschung längst nicht mehr Tafel und Kreide zur Hand nimmt, mündet für die Fußball-Wissenschaftler doch alles in der zentralen Frage: Wie kommt man am besten und am schnellsten vor das gegnerische Tor und schließlich zu einem Treffer? Fotos: dpa
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Angefangen hat für den heute 44-Jährigen alles im Jahr 2000. Seinerzeit erstellte Memmert beim damaligen Regionalligisten TSG Hoffenheim seine ersten Spielanalysen. 14 Jahre war Memmert für den Kraichgau-Klub spielanalytisch und forschend unterwegs. „Wobei die viereinhalb Jahre mit und unter Ralf Rangnick die intensivsten waren. Er hat mich mit dem Virus Fußball infiziert“, erzählt Memmert.

Die Klubs profitieren

Heute profitiert auch der Profi-Fußball von der Arbeit Memmerts und seinem Team. Bei einer Ausschreibung der Deutschen Fußball Liga (DFL) für die Entwicklung und Identifizierung von sogenannten Key Performance Indizes, also zentralen Leistungsindikatoren, hatte die Mannschaft der Kölner Sporthochschule unter 40 Bewerbern die Nase vorn. Nach jedem Spielwochenende liefert die DFL die Positionsdaten aller Spiele der beiden Profiligen an die Vereine. Dass längst nicht alle Klubs dieses Angebot in Anspruch nehmen, hat für Memmert triftige Gründe. „Viele Vereine verfügen schlichtweg gar nicht über die Werkzeuge, mit diesen Daten dann umzugehen“, sagt er. Der Fortschritt kommt eben nicht überall im Geschäft gleichzeitig an.

Dabei sind der Professor und sein Team nach eigenem Bekunden der Erfolgsformel wieder ein Stück näher gekommen. „Liefern unsere Leistungsindikatoren auf der Basis von Positionsdaten doch Informationen, die weit über Faktoren wie Passquote, Zweikampfquote oder zurückgelegte Kilometer hinausgehen“, erklärt Memmert, der dieses Analyseprogramm gemeinsam mit dem Informatiker Jürgen Perl entworfen hat. Der Name des Programms: „Soccer“.

Auch wenn seine Forschungsarbeit am Computer das vermuten lassen könnte, so gehört Memmert nicht zu der Zunft der vergeistigten Wissenschaftler, die im stillen Kämmerlein vor sich hin forschen. Wer Fußball liebt, muss Daniel Memmert mögen. Für fast jede seiner am PC entstandenen Erfolgsthesen – oder auch Misserfolgsthesen – hat der Mann mit der Fußball-Trainerlizenz Beispiele aus der Praxis parat. Der Kölner Spieleforscher und die Trainer in den Profi-Klubs gehen eine Symbiose ein. Es ist ein Wechselspiel, von dem beide Seiten gleichermaßen profitieren.

Und wie lautet nun die aktuelle Formel für Erfolg im Fußball? Für Memmert gibt es da keine Zweifel. „Die Mannschaft, die in einem bestimmten Bereich des Platzes über die Raum- und Ballkontrolle verfügt, hat, statistisch gesehen, die größten Aussichten auf Erfolg.“ Ein wichtiger Bereich ist beispielsweise der Dreiviertel-Raum, also das Areal in der gegnerischen Hälfte von der Mittellinie bis etwa in Höhe des Strafraums. „Diesen Bereich gilt es, zuzustellen und Pässe ins letzte Viertel zu unterbinden“, beschreibt Memmert. Das sei Real Madrid im jüngsten „Clasico“ gegen den FC Barcelona beim 2:1 im Camp Nou bestens gelungen. Barcas Ballbesitzfußball scheiterte in diesem Fall, weil Real in besagtem Dreiviertel-Raum spielbestimmend agierte.

Ballbesitz ist nicht alles

In der Bundesliga sind zuletzt dem Ballbesitzfußball der Bayern viele Gegner mit einer Fünferkette und vier Mittelfeldspielern begegnet. „Da hatten diese Teams ein Übergewicht im Mittelfeld, in eben jenem Dreiviertel-Raum und haben den Bayern das Leben somit schwer gemacht“, analysiert Memmert. Das 3:1 der Gladbacher bei der ersten Saisonniederlage des FC Bayern ist demnach so entstanden.

Überhaupt ist Ballbesitzfußball kein Garant für Erfolg. „Unsere Analysen haben gezeigt, dass die meisten Tore im Umschaltspiel nach erfolgreichem Angriffspressing fallen, und nicht nach längeren Ballbesitzphasen“, so der Kölner Forscher. Leverkusens Trainer Roger Schmidt etwa ist ein leidenschaftlicher Vertreter des aggressiven Angriffspressings. Erst ab einem Wert von 70 Prozent und mehr wird laut dem Wissenschaftler Ballbesitz zur Erfolgsformel – laut einer neuartigen Simulationsstudie von Memmert und Perl. Memmerts Beispiel hier: Das Relegationsrückspiel zwischen dem 1. FC Nürnberg und Eintracht Frankfurt. Das Siegtor für die Hessen war zu einer Phase erdrückenden Ballbesitzes für Frankfurt gefallen.

Aber ob Ballbesitzfußball, aggressives Pressing und Gegenpressing oder Umschaltspiel, „mittlerweile beherrschen gerade die Spitzenklubs die gesamte Klaviatur der Spieltaktiken“, weiß Memmert. Folglich gilt es, den Gegner mit dem Unerwarteten zu überraschen, um zum Erfolg zu kommen. „Es reicht längst nicht mehr, eine Taktik nur weiterzuentwickeln. Es gilt vielmehr, Revolutionäres zu kreieren“, sagt der Spielforscher und würde auch bei der EM gern mehr Variabilität im taktischen Verhalten sehen. „Guardiola ist so ein Trainer, der gern mal anders denkt. Etwa, indem er einen Joshua Kimmich als Innenverteidiger nominiert und so das spielerische Element in der Defensive bereichert.“

Allerdings erwartet Memmert bei der EM keine taktischen Finessen. „Nicht dass die Nationaltrainer dazu nicht in der Lage wären. Aber ihnen fehlt es an Zeit. Neuerungen werden zumeist in den Klubs geboren.“ Viele kleinere Fußball-Nationen werden für Memmert bei der EM ihr Heil in einer kompakten Defensive und nadelstichartigen Kontern versuchen. „Da gilt es dann auch für die deutsche Mannschaft, Lösungen zu finden.“ Auch deshalb ist laut Memmert taktische Variabilität so wichtig – und Personal, das flexibel eingesetzt werden kann. „Ein Mario Gomez kann aus diesem Grund noch wichtig fürs deutsche Team werden. Ebenso ein Leroy Sane. Das sind Spieler für die besonderen Momente.“

Auch für den DFB analysiert das Institut für Kognitions- und Sportspielforschung die Gegner. Mitfavoriten wie Frankreich, Spanien oder England hat das Team Köln ständig auf dem Schirm, weiß vieles über ihre taktischen Neuerungen und Spielvarianten. „Natürlich ist im Fußball nicht alles planbar. Und das ist gut so. Aber wir wollen den Faktor Zufall minimieren“, sagt Memmert. Bei rund 41 Prozent der Tore ist laut Memmert mehr Zufall als Planung im Spiel. Stand heute. „Das waren mal 47 Prozent. Wir wollen den Wert minimieren. Unser Ethos ist es, Philosophien zu entwickeln, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Spiele zu gewinnen“, resümiert Memmert. Daran arbeitet der Spielforscher mit Erfolg. Das wissen sie nicht nur beim FC Barcelona.