Zielstrebig nimmt Willi Klein die Treppen auf der großen Tribüne. Es geht alles nicht mehr so schnell wie noch vor ein paar Jahren, er benötigt ein Geländer, an dem er sich festhalten kann, und doch steht für ihn außer Frage, dass er den Platz fast ganz oben, in der vorletzten Reihe aufsucht, nahezu auf Höhe der Mittellinie. Das ist der Stammplatz des 90-Jährigen, der in den vergangenen Jahrzehnten gerade mal eine Handvoll Spiele seines VfB Wissen versäumt hat.
Er ist keiner, der laut ist, keiner der sich über den Schiedsrichter beschwert. Der eine oder andere Kommentar, wenn einer der Spieler oder der Unparteiische eine falsche Entscheidung getroffen hat, geht ihm dann aber schon über die Lippen. Leise. Mehr zu sich selbst. Gerade zuletzt hat Klein wenig gute Auftritte seines VfB gesehen. Das war schon ganz anders. Schließlich ist er in doppelter Hinsicht das älteste Vereinsmitglied.
„Der Jugendleiter hat mich dann erst einmal mit richtigen Fußballschuhen ausgestattet. So konnte man auch wirklich nicht spielen.“
Willi Klein war in Holzschuhen zu seiner ersten Einheit gekommen
1946, unmittelbar nach dem Krieg, war er zum VfB gekommen, spielte noch in der Jugend. Klobige Holzschuhe hatte er bei seiner ersten Einheit an, daran erinnert er sich noch, als sei es gestern gewesen. „Der Jugendleiter hat mich dann erst einmal mit richtigen Fußballschuhen ausgestattet. So konnte man auch wirklich nicht spielen“, erzählt er lachend. Damals wurde noch im benachbarten Frankenthal gespielt, das heutige Stadion gab es noch nicht, das wurde erst in der Zeit von 1950 bis 1955 gebaut. Auch Klein fuhr Schubkarre um Schubkarre, half bei der Errichtung der Tribüne, die seither Wochenende für Wochenende seine erste Anlaufstelle ist.

Klein fungierte zu ruhmreichen Regionalligazeiten als Fahrer
Seine Fußballkarriere war indes schnell wieder vorbei. Der gelernte Anstreicher stieg früh in den Milchtransportbetrieb seines Schwiegervaters in Hamm ein, übernahm Verantwortung, hatte dadurch keine Zeit, regelmäßig zu trainieren und zu spielen, konnte auch keine Verletzungen riskieren.
Nah dran am Team blieb er dennoch. Als Vorstandsmitglied in ganz unterschiedlichen Funktionen und als Fahrer. Ab der Saison 1961/62 und dem Aufstieg in die damalige 2. Liga Südwest ging es los „Damals sind wir noch mit Autos zu den Auswärtsspielen gefahren, das ging einfach deutlich schneller als mit dem Bus“, erinnert er sich an glorreiche Zweitligazeiten, in denen es für den VfB bis ins tiefste Saarland ging. Immer vom Treffpunkt in Roth aus, immer im Konvoi.
„Und das ging natürlich auch alles nur, weil meine Frau das jederzeit mitgetragen, weil sie Verständnis dafür hatte.“
Willi Klein lebt und liebt den Fußball, das ging nur dank der Rückendeckung durch seine Frau
Dass Klein zur Ansprache vorm Spiel mit in der Kabine war, gehörte dazu. „Ich weiß gar nicht, warum. Aber es hat keiner etwas gesagt, sich keiner beschwert, also war ich dabei.“ Auch im Anschluss an die Spiele war er immer dabei. Dann, wenn Siege oder Niederlagen begossen wurden. Da sei es dann durchaus auch mal später geworden. Seine Frau habe ihm damals erzählt, sie habe alle Heimkomm-Zeiten akribisch dokumentiert. „Den Zettel habe ich allerdings nie gesehen“, berichtet Klein. Streit habe es deswegen auch keinen gegeben. Nie. „Und das ging natürlich auch alles nur, weil meine Frau das jederzeit mitgetragen, weil sie Verständnis dafür hatte.“
Der Fußball, sein VfB Wissen, stand nahezu über allem. Auch heute noch fährt er zu vielen Auswärtsspielen mit, lediglich die ganz langen Strecken, die tut er sich nicht mehr an, auch wenn er sich selbst noch fit fühlt. „Ich sage immer: Ich habe nur eine Krankheit, das Alter“, erzählt er augenzwinkernd.
Besondere Überraschung zum 90. Geburtstag: Ehemalige Weggefährten kommen nach Wissen
Mit einem Tränchen füllen sich seine Augen indes, wenn er sich an den 8. März dieses Jahres erinnert. Da nämlich hatte der VfB-Vorstand eine ganz besondere Überraschung organisiert. Unter dem Vorwand, ihm zum 90. Geburtstag gratulieren zu wollen, hatten sie ihn ins neue Vereinsheim am Stadion gelockt, hatten ihn schon vor der Tür empfangen und dann ins Gebäude geleitet. „Ich dachte, die wollen mir einfach nur gratulieren, mir vielleicht ein kleines Präsent überreichen“, sagt Klein im Nachgang.

Die Vorstandsmitglieder hatten sich etwas viel Größeres einfallen lassen, um ihrem ältesten und ohne Frage einem der verdientesten Mitglieder den runden Geburtstag zu einem ganz besonderen Erlebnis werden zu lassen: Nach und nach kamen ehemalige Weggefährten Kleins um die Ecke im Vereinsheim. Spieler, die er in den 60er, 70er und 80er Jahren in seinem Auto zu den Partien gebracht hatte. Insgesamt 40 ehemalige Aktive und Trainer hatten die Organisatoren nach Wissen gelockt, die weiteste Anreise hatte neben Steffen Herms aus Halle sicherlich der Schotte Scott Burnside, der auch für die TuS Koblenz gespielt hatte, und eigens zu Ehren Kleins von der Insel nach Wissen gekommen war.
„Das war unglaublich. Ich konnte in den folgenden Tagen an nichts anderes denken als an diesen Nachmittag.“
Willi Klein freute sich über die gelungene Überraschung im Vereinsheim
„Das war unglaublich“, sagt der 90-Jährige. „Ich konnte in den folgenden Tagen an nichts anderes denken als an diesen Nachmittag.“ Es war ein Tag voller Erinnerungen an vergangene Zeiten, an lustige, spannende, manchmal auch traurige Anekdoten, an ruhmreiche Wissener Fußballdekaden, an volle Tribünen und heiße Duelle, an Geselligkeit und feucht-fröhliche Feiern.

Die Zeiten haben sich seither geändert. Das weiß auch Klein. Er verschließt davor nicht die Augen, blickt aber das eine oder andere Mal schon wehmütig zurück. Natürlich, es gebe auch Dinge, die besser geworden seien. Aber dass der Amateurfußball in der Gesellschaft deutlich an Stellenwert eingebüßt hat, das stimmt ihn schon traurig, wenn er sich während der Rheinlandligapartie seines VfB Wissen auf der großen und nur spärlich gefüllten Tribüne umschaut. Er hat andere Zeiten erlebt. Spiele, bei denen die Zuschauerzahl im vierstelligen Bereich lag.
Das ist vorbei, dessen ist sich Klein bewusst. Und dennoch steht für ihn außer Frage, dass der VfB auf seiner Prioritätenliste ganz oben steht, immer stehen wird. Und solange er kann, wird er am Wochenende auf der Tribüne im Wissener Stadion sitzen. Auf seinem Stammplatz, fast ganz oben, von wo aus er zuletzt auch den 7:1-Sieg seines VfB über Vordereifel bejubeln konnte. Endlich wieder.