Mainz
Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Sport: Wenn der Trainer die Grenzen überschreitet

Hilflose Opfer: Auch im Sport gibt es immer wieder Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen.

Mainz - Eltern wähnen ihre Kinder gerade im Sportverein gut aufgehoben. In den allermeisten Fällen ist das auch so, und dennoch gibt es wie überall schwarze Schafe, die ihre Machtposition ausnutzen: Trainer, die bei der Hilfestellung zu weit gehen, Übungsleiter, die mit unter die Dusche kommen.

Hilflose Opfer: Auch im Sport gibt es immer wieder Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen.

Im Interview mit unserer Zeitung spricht Ines Rose, Leiterin des Mainzer Polizeikommissariats II für Sexualdelikte und Gewaltdelikte gegen Frauen und Kinder, über die Gefahren sexuellen Missbrauchs im Sport. Die 55-Jährige, selbst Mutter von drei Kindern, führt keine konkreten Fälle an. „Es sollen keine alten Wunden aufgerissen werden“, sagt Rose. Mit der Erfahrung von 35 Jahren Polizeiarbeit erzählt die Kriminalhauptkommissarin von Täterstrategien und darüber, wie sich Kinder und Eltern vor Übergriffen schützen können. Rose warnt auch vor einem Generalverdacht.

Um Panikmache zu vermeiden: Sexueller Missbrauch im Sport, wie ernst ist das Problem?

Das ist kein Problem, das im Vordergrund steht. Aber: Täter suchen sich Gelegenheiten, um ihre Neigungen auszuleben. Sie suchen sich gern Tätigkeiten, bei denen sie mit den Opfern zu tun haben. Wir finden Täter oft bei Sportveranstaltungen, bei Kinderfestivals, in Sportvereinen. Und die, die sich ehrenamtlich anbieten, sind auch oft Täter.

Gibt es konkrete Zahlen? Einige Experten sprechen davon, dass ein Drittel aller Sportlerinnen schon einmal Opfer sexueller Belästigung oder Gewalt war.

Zahlen kann ich nicht nennen, weil das Dunkelfeld riesig groß ist. Hier sind schließlich Kinder betroffen, die sich „outen“ müssen, und wenn sich ein Kind dazu entschließt, sind da oft noch die Eltern, die das vielleicht nicht wollen. Dazu kommt, dass Täter und Opfer in einer Beziehung stehen. Je näher diese Beziehung ist, desto schwerer ist es, das Ganze anzuzeigen, weil man ja auch die positiven Dinge einer solchen Beziehung nicht verlieren will. Ein Beispiel: Der Trainer gaukelt dem Opfer vor – natürlich nicht ganz uneigennützig: Du bist ein kleiner Star, und ich werde dich fördern. Da entsteht eine gewisse Abhängigkeit, die will man als Kind nicht verlieren, nach dem Motto: Das ist ja der, der mich groß macht, der mich fördert. Kinder, die ihren Trainer anhimmeln, werden nichts sagen.

Ines Rose im Gespräch mit unserer Zeitung.

Ist der Sport besonders gefährdet?

Natürlich gibt es die schwarzen Schafe überall. Der Sport bietet aber eine Gelegenheit, sich körperlich nahe zu kommen, je nach Sportart mehr oder weniger.

Gibt es Sportarten, die besonders betroffen sind?

Das sind die Einzelsportarten, bei denen der Trainer etwa durch Festhalten am Barren körperlichen Kontakt quasi aufnehmen muss. Dann gibt es aber auch Sportarten, die besonders im Fokus stehen. Jeder kleine Junge will heutzutage doch ein Fußballstar werden. Da läuft es aus Sicht des Sportlers oft auf der Schiene: Wie fördert mich der Trainer, welches Lob kriege ich, wie werde ich eingesetzt? Tatsache ist, dass die Opfer besondere Privilegien genießen und damit auch genötigt werden, bestimmte Handlungen mitzumachen. Die Trainer versprechen Extra- oder Einzeltraining – einhergehend mit der Möglichkeit, das Kind für sich allein zu haben und dann Dinge mit dem Kind machen zu können, die keiner mitbekommt.

Woran kann man potenzielle Täter erkennen?

Man kann sie nicht erkennen, das ist ja das Gefährliche. In der Regel können diese Leute sehr gut mit Kindern umgehen. Es kommt immer darauf an, was das Ziel des Täters ist. Es gibt welche, die nur Fotos machen wollen, angeblich für die Sportzeitung oder für den Eigenbedarf – und sich dann daran aufgeilen. Man sollte sich fragen: Warum muss ein Trainer Fotos machen? Was wir oft beobachten, sind Trainer, die eine sehr große Nähe aufbauen. Trainer haben die Aufgabe, die Kinder zu trainieren und zu fördern. Vielleicht sollen sie auch noch darauf achten, dass die Schule nicht zu kurz kommt. Wenn aber ein Trainer den Kindern anbietet: Bei mir zu Hause könnt ihr eure Hausaufgaben machen, ich gebe euch Nachhilfe, ist es etwas anderes. Manche Kinder dürfen beim Trainer vor dem Spiel auch übernachten. Viele Eltern sind sogar dankbar, dass sie morgens nicht so früh aufstehen und Gott-weiß-wohin fahren müssen. Das aber sind Grenzüberschreitungen, die jeder erkennen sollte.

Gelangen rührige Trainer und Übungsleiter somit nicht schnell unter Generalverdacht?

Wenn ein Trainer, der keine bösen Gedanken hat, ein bisschen vernünftig ist, dann darf er so etwas nicht tun. Der Erwachsene ist derjenige, der die Grenze setzen muss. Ein Kind hat beim Trainer zu Hause nichts zu suchen. Und was den Körperkontakt angeht: Kinder brauchen Zuwendung, sie brauchen Umarmungen, sie wollen in die Luft geworfen werden, wenn sie etwas gut gemacht haben. Aber es gibt überall Grenzen.

Wie schmal ist der Grat zwischen Vorsicht und voreiligem Verdacht?

Im Prinzip hat es heutzutage – und das heiße ich auch nicht gut – jeder Opa auf dem Spielplatz schwer, der Kindern ein Bonbon schenkt, und jeder Autofahrer, der ein Kind nach dem Weg fragt. Wobei ich denke: Dann soll er doch einen Erwachsenen fragen. Ich sage meinen Kindern immer: Wenn ihr etwas wissen wollt, dann fragt eine Familie oder eine Frau. Die meisten Täter sind nun mal Männer. Manchmal sehe ich Trainer, die mit den Kindern ins Kino, in die Pizzeria oder Eisdiele gehen, ich sehe sie zusammen im Stadion. Da muss man sich fragen: Macht dieser Mensch auch noch etwas anderes in seiner Freizeit, als sie mit den Kids zu verbringen? Das hat ein Geschmäckle, aber ich kann keinem etwas vorwerfen. Ich würde meinem Kind sagen: Sieh zu, dass du mit diesem Mann nicht allein bist. Diese Täter suchen sich Situationen, in denen sie mit dem Kind allein sind – egal, ob im Sportverein oder sonst wo. Wir haben es immer mit einem Täter zu tun, der ein Opfer sucht, nicht zwei oder drei.

Gilt sexueller Missbrauch im Sportverein nicht oft als Tabu? Will der eine oder andere Klubvorsitzende das Thema der Vereinsidylle zuliebe nicht lieber totschweigen?

Welche Schule, welche Firma, welcher Sportverein will den Makel haben, dass etwas vorgefallen ist? Das Schlimmste für einen Sportverein ist, wenn so ein Fall bekannt wird. Alle Vereine suchen händeringend Freiwillige, weil kein Geld da ist. Wenn die das dann auch noch gut machen und Eltern und Kinder zufrieden sind, ist das ein Geschenk, alle denken: Ach, haben wir ein Glück, dass wir so einen tollen Kerl haben. Und dann will auch keiner vermuten, dass etwas falsch läuft. Oft ist es auch so, dass versucht wird, so einen Menschen irgendwie anders loszuwerden. Viele werden weggelobt und tauchen in einem anderen Sportverein wieder auf. Wenn man sich da nicht die Mühe macht, hinterher zu sein, können diese Menschen wieder neu anfangen. Prinzipiell sehe ich aber, dass die Vereine sich kümmern, dass das Thema nicht mehr tabu ist wie früher.

Wie können sich Kinder schützen, was können Eltern tun?

Dieses Thema soll man dann anpacken, wenn es sich ergibt. Ein Kind bekommt ja auch mit, wenn irgendwo ein anderes Kind angesprochen wird oder wenn darüber etwas in der Zeitung steht. Also spricht man mit Kindern darüber, damit sie wissen: Es gibt Menschen, die Kindern wehtun, die sie nicht mehr nach Hause lassen – und man sieht es diesen Menschen nicht an. Man muss ja nicht bis ins kleinste Detail gehen. Eltern sollten hingucken, wach sein, vielleicht im Verein mitarbeiten, um Dinge mitzubekommen. Ich rate Eltern außerdem häufig, die Liste, wer die Kinder im Kindergarten abholen darf, klein zu halten. Das Kind muss den Überblick behalten können, wer fremd ist und wer nicht. Dann gilt noch der Grundsatz: immer alles gemeinsam, nach Möglichkeit kein Einzeltraining.

Ist das nicht übertrieben? Im Tennis zum Beispiel gibt es doch häufig Einzeltraining.

Da sind ja meistens andere Leute nebenan auf dem Platz. Wenn ich um Hilfe schreie, muss mich jemand hören können. Wenn man Sport treibt, solange die Mannschaft dabei oder jemand auf dem Nebenplatz ist, passiert nichts. Man sollte Situationen vermeiden, in denen man mit jemandem allein ist.

Was kann der Sportverein oder -verband tun?

Ehrlich sein und nicht sagen: Das will ich nicht sehen, das kann nicht sein. Die angesprochenen Grenzüberschreitungen, wenn ein Trainer die Kinder mit nach Hause nimmt, würde ich von Vereinsseite direkt ansprechen. Da muss gar kein konkreter Verdacht da sein. Aber es soll verhindern, dass es zu solchen Situationen kommt oder Gerüchte entstehen. Denn das kann dem Verein ja auch schon schaden.

Das Gespräch führte unser Redakteur Jochen Dick

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