Nürburg
„Scheiß Tribüne“ – Der ungeliebte Platz abseits der eigentlichen Party bei Rock am Ring
Die Tribüne auf Rock am Ring
Kevin Rühle

Mitte der 90er-Jahre war unser Autor als Jugendlicher erstmals auf Rock am Ring, seit 2003 auch als Fotograf. Seitdem hat sich nicht nur Festivalkultur gewandelt, sondern auch die Abläufe hinter den Kulissen. Ein Meinungsbeitrag.

Jährlich erschallen die Chöre vor der Hauptbühne Richtung VIP-Lounges: „Scheiß Tribüne“. Es ist das Aufbegehren des Festivalbesuchers gegen, wie Bela B und Farin Urlaub von den Ärzten es am Freitagabend nannten, die Profiteure der Steuergesetzgebung, deren Champagner die Ringrocker mit ihren Eintrittsgeldern bezahlen. Oberhalb des Fahrerlagers, auf der Tribüne, trifft sich eine bunte Mischung aus Gästen der Künstler, Mitarbeitern des Festivals, Medienvertretern, Prominenten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Die Frage: Wie privilegiert ist die „Scheiß Tribüne“ eigentlich.

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Während die Band Electric Callboy spielt, drängen sich die Fotografen vor der Bühne. Bisher durften die Fotografen auch auf die Bühne und hatten eine bessere Perspektive.
Kevin Rühle

Hinter dem unteren Balkon befinden sich die VIP-Lounges, hier lässt sich das Festival genießen. Getränke und das Buffet sind für geladene Gäste kostenlos, der Weg zu den Bühnen angenehm entspannt. Und der Blick auf die Hauptbühne ist, wenn man in der ersten Reihe steht, tatsächlich ein Genuss. Der Sound vor der Bühne ist besser, die Stimmung auch. Ein Stockwerk höher befindet sich unter anderem das Medienzentrum am Ring. Wo normalerweise über Rennveranstaltungen berichtet wird, sitzen Influencer, Fotografen und Berichterstatter an Schreibtischen und verarbeiten das gesammelte Material, das später im Netz oder im TV verbreitet wird.

Blickt man 20 Jahre zurück, ist das Leben auch für die Journalisten in vielen Fällen angenehmer geworden. Die Kühlschränke mit Getränken sind gut gefüllt, sogar der Kaffee schmeckt. Der Umgang ist freundlich. Früher fühlte man sich bereits privilegiert, weil man eine halbwegs saubere Toilette nutzen durfte. Trotzdem werden die Räume, in denen vor allem klassische Medien berichten, immer enger. Dafür sorgen nicht nur zusätzliche Absperrgitter und Sichtschutz oder Bereiche, die seit vielen Jahren nicht mehr zugänglich sind. Auch die Kommunikation, der kritische Austausch zwischen Festivalbetreiber und Journalisten, wird immer schwieriger. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein aufgeregter Marek Lieberberg sich auch den unangenehmen Fragen der Journalisten stellte. Heute reicht man Fragen zum Festival, zum Sicherheitskonzept, Zuschauerzahlen oder Problemen mit der Technik schriftlich ein – und wartet. Die am Sonntag übliche Pressekonferenz gibt es auch nicht mehr.

Solche Augenblicke gibt es während den ersten drei Lieder selten. In dieser Zeit müssen alle Bilder im Kasten sein. Fotos, von der Tribüne aus gemacht, sind nicht gerne gesehen. Aber sie transportieren, was ein Festival ausmacht.
Kevin Rühle

Rock am Ring ist das bedeutendste deutsche Musikfestival, eine Veranstaltung mit Geschichte. Da mag man glauben, dass die Abläufe auch hinter den Kulissen über Jahre eingeübt sind. Doch es gibt immer wieder Überraschungen. Statt am Einlass zu sehen, wie die ersten Gäste das Festivalgelände stürmen, warten die für das Medienzentrum zugelassenen Personen in der Schlange auf Einlass. Ausweise reichen nicht mehr aus, mit kleinen Scannern werden die Armbänder überprüft, auf dem Display erscheint der Name – wenn es grün leuchtet, darf man rein. Auf dem Weg zum Arbeitsplatz folgen mehrere weitere Sichtkontrollen, auf die Durchsuchung der umfangreichen Ausrüstung von Kamerateams wird nach einem genervten Blick meist verzichtet.

Auch vor der Bühne ändern sich die Abläufe. Querbeat eröffnen am Freitag das Festival, nach nur wenigen Sekunden müssen die Fotografen ihren Platz wieder verlassen – der geplante Einsatz von Pyrotechnik stellt eine Gefahr da. Die nächste Band, Guano Apes, besteht darauf, dass nur während dem ersten Song fotografiert wird. Die Kollegen fragen nicht, seit Jahren sind derlei willkürliche Entscheidungen üblich. Später wird der Arbeitsplatz der Fotografen eine Etage tiefer gelegt. Fotografiert wird nun aus dem Graben, die Bühnenkante verhindert den Blick auf viele Künstler, schnell wirken viele Fotografen ratlos und wenden sich aufgrund mangelnder Motive dem Publikum zu. Von den feiernden Massen fehlen in diesem Jahr eh viele Fotos, da die Fotografen nicht mehr vor der Bühne auf den Konzertbeginn warten, sondern hinter einem Sichtschutz Einlass begehren. Da ärgert der unterschriebene Vertrag mit dem Management der Band Die Ärzte, der jedwede Nutzung von Fotos in den sozialen Medien untersagt, kaum noch.

Die Zeiten ändern sich, Rock am Ring wird in der Zielgruppe stärker über TikTok oder Instagram wahrgenommen als über klassische Medien. Influencer, verkleidet in schrillen Kostümen oder im Hochzeitskleid, gehören seit einigen Jahren zum Medientross dazu. Der große Rest besteht häufig aus Fans der Musikszene. Man hört von jungen Journalisten, die sich für die Arbeit am Ring Urlaub nehmen müssen – und natürlich trotzdem ihre Texte und Fotos gewohnt verlässlich abliefern. Am Samstag erzählt ein Fotograf von einem Konzert in Belgien, bei dem nur Smartphones als Kamera im Fotograben zugelassen wurden. Die Gründe erschließen sich nicht. Erfolgreiche Konzertfotografie betreiben heute eigens engagierte Spezialisten, die das Festival oder die Bands selbst begleiten.

Am Samstagabend werden die Medien für den Topact Green Day von der Band handverlesen. Es stellt sich die Frage, ob man sich überhaupt noch an solchen Strukturen beteiligen sollte. Presseagenturen verzichten bereits häufig darauf, die großen Namen auf Festivals abzulichten. Auf Rock im Park kündigten Green Day offenbar an, das Konzert abzubrechen, sollten Fotografen aus der Ferne „unerlaubte“ Fotos schießen. Ein Kopfschütteln und ein Grinsen sind die einzigen Reaktionen, die das unter den Fotografen auslöst. Es folgt die nächste Ansage, neue Regeln, gleiches Spiel. Nur wenig später ist die Stimmung wieder besser. Die Donots liefern mit viel Energie das ab, was nicht nur das Publikum erwartet. Hier ist sie, die Festivalstimmung, die sich auch in Bildern widerspiegelt. Dann ertönt wieder der Chor: „Scheiß Tribüne“. Da sitzen die arbeitenden Medienvertreter bereits wieder vor ihren Computern. Ist ja Arbeit, trotz Vergnügen.

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