Auszug aus den Memoiren von Maus-Erfinder Müntefering: „Auf meinem Gemüt hielten sich Blutspuren“

Das Medaillon zeigt den Großvater.
Das Medaillon zeigt den Großvater. Foto: Müntefering

Meine Mutter hatte mich im Verlauf des Jahres 1944 für zwei Monate bei ihren Eltern auf dem Hügel im Westerwald in sichere Obhut gegeben und damit vor Bomber Harris und dem amerikanischen General mit dem schönen Flugnamen Spatz geschützt. In ihrem Auftrag marschierte ich nach Erkundigungen über Lage und Weg mit Brief in der wilden Schrift meiner Mutter und mit meinem Zeugnis in die einklassige Dorfschule in Verscheid und meldete mich bei dem Lehrerehepaar zum Dienst an. Der Empfang war freundlich – die Lehrpersonen sahen die Kinder aus den umliegenden Dörfern als eine große Familie an. Da fehlte nur noch ein schwarzes Schaf. In Verscheid wartete ich vor dem Gasthaus mit dem italienischen Namen Paganetti nach dem Gottesdienst auf einer kleinen Mauer auf den Großvater. Er trank dort sein Bier. Seine schöne laute Stimme war gut zu hören.

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Die Kinder saßen gestaffelt nach Größe (soweit möglich) und nach Wissen (soweit erkennbar) in den Bänken. Mein Platz ganz vorn änderte sich nach einigen Auskünften über Geografie, die ich zum Erstaunen der Lehrkräfte von mir gab und die ich hier nicht wiederhole. Ich bin doch nicht Felix Krull, der sich an Schelmereien zum eigenen Vorteil ergötzt.

Waldbreitbach kam mir vor wie eine Großstadt, für die mir ein strenger Geh- und Einkaufsplan vorgeschrieben war. So bummelte ich umso mehr auf den Gängen zu den dörflichen Versorgern, also zum Schuster in Goldscheid. Und von der Schneiderin in Siebenmorgen marschierte ich heimlich zur Autobahn 3, die links nach Köln führte und rechts zum Frankfurter Flughafen. Dann hockte ich am Rand des leeren Betonbandes und beobachtete den Hasen oder ein Reh vertraulich in Gras und Buschwerk. Sie sahen überaus zufrieden und furchtlos aus. Autos kamen selten vorbei. Manchmal ratterte ein Motorrad – und hinter ihm dicht aufgeschlossen Lastwagen mit dem schmalen Schlitz in den Scheinwerfern und Qualmwolken, die sie auf ihrem Weg zur Ost-, West-, und Süd- oder Richtung Nordfront zu meinem Vater hinterließen. Auf dem Rückweg verfolgte ich ein junges Eichhörnchen in wilder Jagd durch das Gebüsch. Es wartete immer, bis ich dicht heran war, und hüpfte dann lässig eine Baumetage höher. Zu Hause – ich musste meinen gegenwärtigen Wohnsitz bei der Großeltern so nennen – sagte ich unwahre Sätze wie „Ich musste noch warten“ oder „Es war noch nicht fertig“.

Der Ausflug zur Wied gehört zu den wenigen romantischen und abenteuerlichen Seiten dieser Phase meines Knabenlebens. Wir sammelten Schilfrohre, die Lehrpersonen schnitten sie zu handlichen Paketen zurecht, und wir legten unsere Hemden, Hosen und Schuhe darauf und trieben ein, zwei Kilometer in der hüfttiefen Wied bis zur Flussbadeanstalt in Waldbreitbach. 1944 waren dort wenige junge Männer zu sehen. Manchmal knabberten kleine Fische an unseren Zehen, wir sahen auch Enten im Verband.

Einmal durfte ich nicht mit – zur Strafe für ein „biologisches Feldexperiment“ mit Schwalben, das fürchterlich schieflief und infolgedessen ich verantwortlich für dramatischen Schwalbentod durch Ertrinken war. Die Kinder schwatzten am Tag nach ihrem Ausflug ohne mich von dem schönen warmen Wasser – und Karl hatte einen Schuh in der Wied verloren. Den hätte jetzt der Wassergeist. Ich saß stumm in der Bank, machte aber einen Plan zur Besichtigung des Wassergeistes. Er kam nie zur Ausführung.

Völlig in Ordnung war nach dörflicher Anschauung die Rolle, die ich an einem harmlosen Morgen zu spielen hatte. „Er wartet draußen schon, beeil dich,“ so die Großmutter. Sofort legte ich die angebissene Margarinestulle nieder und ging nichts ahnend und weitgehend unschuldig, jedenfalls war bis acht Uhr noch nichts passiert, in den Hof. Der Großvater stand am Hauklotz, in der rechten Hand ein gewaltiges Beil und in der linken ein Huhn. Er hielt es fest an den Beinen und sagte nur: „Hier!“ Ich hatte das Huhn zu halten. „Leg es hin.“ Ich sollte das Huhn also auf den Klotz zur Hinrichtung legen.

Ich tat es, denn das Huhn war ganz still und wartete wohl darauf, sein bisheriges Leben inklusive Eiablage gleich fortführen zu können. Daraus wurde nichts. Das Beil sauste und verrichte seine bäuerliche Arbeit. Erschreckt, ein anderes Wort finde ich nicht, ließ ich los – und mit seinen restlichen vitalen Energien zick-zackte das Federbündel flügelschlagend und Blut spritzend über den Hof. Der Kopf lag auf dem Klotz.

Ich finde auch heute noch, nach rund 76 Jahren, die damalige Anweisung für meine Assistenz beim Hühnertöten ausgesprochen schwach. Wenn er gesagt hätte „und immer festhalten“, dann hätte ich auch einen Ochsen, ob mit oder ohne Kopf, gestoppt. „Der Brunnen.“ So der letzte Befehl. Nach einigen auf Hof und Hauklotz verteilten Eimern Wasser war der Hof wieder sauber. Derweil rupfte Frau Großmutter das noch warme Huhn, und der Wind wirbelte einige Federn zur Erinnerung an das Hühnerleben über den Zaun auf die Wiesen. Auf meinem Gemüt hielten sich Blutspuren. Sie wären mit den Messmethoden der Psychologie, die ähnliche Fortschritte wie die Genanalyse gemeistert hat, sicher gut herauszuarbeiten. Er wollte mich wohl erziehen. Aber er konnte nur weiter geben, was er vor vielen Jahrzehnten erfahren hatte.

So im Nachhinein finde ich den Aufenthalt in Hochscheid und bei den mir zugeordneten Großeltern recht attraktiv. Mit einer Person, die völlig unschuldig in die Bredouille kommt und dann dieses Wort heute ohne automatische Korrektur richtig schreibt, kann man sich doch identifizieren.

Die restlichen Tage schnurrten auf einige Erlebnisse und Episoden zusammen. Ein blonder englischer Flieger schwebte am Fallschirm auf die Wiese am Osterseifen. Er lag dort still und tot, und die Kinder und die Erwachsenen – Felder und Küchen im Stich lassend – schauten ihn stumm an. Sein Gesicht war weiß – und aus dem Mundwinkel war etwas Blut gesickert. Niemand hatte ein Flugzeug gesehen oder eine Rauchfahne. Er war direkt aus dem Himmel gefallen. Es dauerte lange, bis Soldaten und Männer mit Armbinden erschienen. Und sofort zogen Zucht und Ordnung ein. „Zur Seite treten. Hat jemand den Mann berührt?! Achtung vor Füllfederhaltern und Süßigkeiten. Sie sind vergiftet oder explodieren.“ Die Menschen verteilten sich wieder auf ihre Arbeit – aber sie arbeiteten langsam und machten Pausen und sahen zu, wie der Flieger aus England in einem kleinen Wagen abtransportiert wurde.

Einige Tage später zogen in den Wäldern, nicht weit von der Wied, geheime deutsche Soldaten ein, von denen jeder sprach. Sie sollten Raketen in Richtung London und New York schießen. „Das ist die Rache für den Flieger auf unserer Wiese“, sagten die Kinder.

Dann erschienen Flüchtlinge aus Frankfurt und anderen zerbombten Städten. Meinen Großeltern wurden ein zwölfjähriges Mädchen und ihr kleinerer Bruder als Übernachtungsgäste zugewiesen. Tagsüber waren sie an einem anderen Ort versorgt. Ab sofort schlief ich mit einem Mädchen und ihrem zwischengelegten Bruder in einem Bett. Das Mädchen hatte gewisse Ansinnen, die mich sehr überraschten und unwissend verwirrten. Aber das war nicht meine Hauptsorge. Meine Großeltern kannten meine verbrecherischen Neigungen jeder Art inzwischen sehr genau und hatten umfangreiche Maßnahmen getroffen, um mich zu beschäftigen und zu kontrollieren. Meine ergaunerten nächtlichen Äpfel etwa musste ich nun teilen, nachdem die Probe für geräuschlosen Verzehr eines Apfels im mausstillen Zimmer sich als unmöglich erwiesen hatte.

In meinem Daumen eiterte ein kleiner tückischer Holzsplint vor sich hin. Das ging einige Tage schon und interessierte niemanden – eigentlich mich auch nicht, wenn nicht die Schmerzen gewesen wären. „Zeig mal den Daumen“, das sagte meine Mutter. Sie war gekommen und stand plötzlich vor mir mitten in der Stube der Großeltern. Ich konnte sie anfassen, umarmen – und nicht mehr loslassen. Ich folgte ihr auf Schritt und Tritt, gehorsam und ergeben für alle Zeiten und darüber hinaus – nachdem sie zudem mit einem energischen Eingriff den Splint mittels Pinzette aus dem Eiterherd entfernt und den Finger verbunden hatte. Sie benutzte eine Menge mir unbekannter Wörter, wie „ja, mein liebes Kind“ und „hier nimm das Bonbon“ und „Gertchen, setz dich mal ruhig dahin“ und „ja, du darfst jetzt was lesen“. Diese Worte musste ich neu erwerben. Meine Lebenslektion jedoch hatte ich abgespeichert.

Und der Großvater? Ich besuchte Jahrzehnte später sein Grab. Blumen hatte ich nicht mitgebracht. Aber ich gab ihm meine Erinnerung.