Rock-am-Ring-Besucher sind bemerkenswert textsicher. Und vielseitig. Sie können nicht nur bei „The Pretender“ von den Foo Fighters als vieltausendstimmiger Chor die Band vor sich hertreiben, sie haben auch die Flippers drauf: „Lotosblume hab’ ich dich genannt, als die rote Sonne in Japan versank“, intonierten sie am Freitagnachmittag, als ein 77-jähriger Mann im roten Paillettenjackett auf der Bühne erschien, den man hier nicht so ohne Weiteres erwartet hätte.
Olaf von den Flippers überraschte die Rockfans als „Special Guest“. Ist das die viel diskutierte stilistische Offen- beziehungsweise Verkommenheit beim (einstigen) Rockfestival? Gibt es jetzt etwa auch Schlager am Ring? Wie viel soll man noch ertragen für 300 Euro Eintritt?
Die Flippers als Schmankerl
Natürlich nicht. Olaf der Flipper sorgte für einen Farbtupfer, einen skurrilen Moment – er wurde abgekultet und augenzwinkernd gefeiert. Und ganz so fremd, wie man denken könnte, ist ihm die Materie auch nicht: Olaf hat Festivalerfahrung, der Song „Wir sagen Dankeschön (40 Jahre Die Flippers)“ ging vor einiger Zeit viral. Ihn zum Kronzeugen zu machen für die teils erbittert geführten Genrediskussionen am Ring, wäre falsch.
Und doch gibt es diese Diskussionen, und sie sind in diesem Jahr umso mehr aufgebrochen, als das Kalkül der Festivalmacher offensichtlich nicht so gut und lukrativ aufgegangen ist wie in den vergangenen Jahren: Rock am Ring war nicht nur nicht ausverkauft: Mit „mehr als 70.000 Besuchern“, wie es seitens der Veranstalter hieß, wurden die Kapazitäten alles andere als ausgeschöpft. Im Vorjahr kamen noch 90.000 in die Eifel. Woran lag’s? An der Programmauswahl? Den gestiegenen Ticketpreisen? An der Kombination aus beidem? Wie viel Pop und Rap verträgt ein Rockfestival?
Offenbar eine ganze Menge, geht man nach den Publikumsreaktionen. So wurde etwa die Show der Berliner Hip-Hop-Großmäuler K.I.Z zu einem Stimmungshöhepunkt sondergleichen – ganz im Gegensatz zum unmittelbar folgenden Auftritt der US-Rocker Kings of Leon, der vielen zu introvertiert, zu eintönig rüberkam, jedenfalls nicht Headliner-gerecht. Rap gegen Rock: 1:0.
Foo Fighters liefern Höhepunkte
Am Vorabend sah das noch anders aus. Das Konzert der Foo Fighters war mehr als der erwartete Höhepunkt des ersten Tages, es war wohlmöglich der musikalische und auch emotionale Gipfel des Festivals (den Abschluss der Toten Hosen mal ausgeklammert). Dave Grohls Band am Tag der Veröffentlichung ihres neuen Albums, des ersten nach dem plötzlichen Tod von Schlagzeuger Taylor Hawkins, auf einer deutschen Festivalbühne stehen zu haben – das war große Rock-’n’-Roll-Dramatik.
Und die wirkte: Der Platz vor der Hauptbühne war gerammelt voll, aus der Energie der Drei-Gitarren-Dampfmaschine auf der Bühne und der Exstase davor entstand jene Magie, die man sich gemeinhin vom Liveerlebnis erhofft.
Grohl schlug diese Saiten bewusst an, kramte in der Historie, Plakate und alte Bandlogos flimmerten über den Riesenbildschirm hinter den Musikern. „But Here We Are“ heißt das neue Album, man könnte es mit „Aber wir sind hier, trotz allem“ übersetzen. Dankbar sogen die Fans diese besonderen Momente auf, waren ebenfalls „da“. Zum Heulen schön etwa die lange Zeit nur von Grohls Gitarre vorangetriebene Version von „My Hero“. Bei einem Gedenkkonzert für Taylor Hawkins hatte noch dessen Sohn Shane dazu seine Trommeln malträtiert, als brächte es den Vater zurück. Nun eine ganz andere Facette – auch so gefühlvoll kann Rockmusik sein.
DRK zieht Bilanz
Die Rettungskräfte sind zufrieden mit ihrem Einsatz am Ring: Armin Link, Leiter des DRK am Nürburgring, teilt mit, bis Sonntagabend habe es rund 3000 Versorgungen im Sanitätsdienst und 380 Einsätze des Rettungsdienstes gegeben. „In all den Jahren der unterste Wert an Versorgungen“, so Link: „Wir haben dieses Jahr ein sehr, sehr besonnenes Publikum.“ Vereinzelte Hubschraubereinsätze habe es wegen Verbrennungen und entsprechenden Transporten in ein Kölner Fachklinikum gegeben.
Und Rock am Ring ist eben noch viel mehr. Das bedeutete, dass viele Besucher nach den Foo Fighters eben noch bei Apache 207 der Nacht entgegenfeierten – der megaerfolgreiche Rapkünstler („Komet“) gestaltete ein auch sehenswertes Late-Night-Special mit aufwendiger Tankstellen-Bühnenkulisse. Und durfte sich ebenfalls über Massenandrang freuen.
Vier Tage lange war ein Reporterteam der Rhein-Zeitung bei Rock am Ring vor Ort - mitgebracht haben sie nicht nur Artikel, Fotos und Videos, sondern auch diese ganz persönlichen Eindrücke.Unverhofftes Wiedersehen und Grübeln über Rammstein: Was bleibt von Rock am Ring 2023?
Weg vom Schubladendenken
So bleibt am Ende die Erkenntnis, dass alle Debatten über vermeintliche Stilgrenzen, die angeblich nicht überschritten werden dürfen, akademisch sind. Zumindest so lange, wie die Show stimmt. Qualität schlägt Genrereinheitsgebote. Rock-am-Ring-Besucher denken heutzutage offenbar viel weniger in irgendwelchen Kategorien. Die Festivalmacher auch nicht: „Rock am Ring war schon immer ein Mainstreamfestival“, sagte Pressesprecherin Steffi Kim.
In diesem Jahr aber eben eines, das deutlich weniger Menschen anlockte. Das wird die Programmmacher beschäftigen. Vielleicht doch mehr Flippers wagen? Deren „Rote Sonne von Barbados“ hätte zumindest zum Ring-Wetter 2023 gepasst.