Nürburgring

Männerquote 0 Prozent: Punkband The Linda Lindas ist die Entdeckung des Rock am Ring 2022

Von Finn Holitzka
Eigentlich ganz farbenfroh unterwegs: Die Punkband The Linda Lindas aus Kalifornien.
Eigentlich ganz farbenfroh unterwegs: Die Punkband The Linda Lindas aus Kalifornien. Foto: CAA/Rock am Ring

Die Line-ups von großen Festivals stehen in der Kritik – zu alt, zu gleichförmig und vor allem zu männlich ist auch das Programm bei Rock am Ring. Ganz anders The Linda Lindas: vier kalifornische Punkerinnen zwischen 11 und 17 Jahren mit asiatischem und hispanischem Background. Ihr Samstagsauftritt bei Rock am Ring war begeisternd. Doch ist das mehr als nur ein Feigenblatt für die Festivalmacher?

Lesezeit: 4 Minuten
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Auf dem Asphalt des Nürburgrings, wo manchmal Kerlsträume in gemieteten Sportwagen wahr werden, sitzt heute eine junge Frau. Sie lehnt mit dem Rücken am Blech des ersten Wellenbrechers, Kräfte sammeln vor dem nächsten Auftritt auf der Orbit Stage. Auf ihre Beinen, von der Festivalsonne verschont, hat sie mit Edding zwei Wörter geschrieben. Rechts steht „Homophobia“. Links steht „Fuck“. Gleich spielen hier The Linda Lindas aus Kalifornien.

Zwei Jahre musste Rock am Ring pausieren, und die Welt hat sich in dieser Zeit weiter gedreht. Weiter, als manchem lieb ist. Aber wenn man an diesem Juniwochenende übers Festival schlendert, kann man doch das Gefühl kriegen, das noch alles beim Alten ist – im Positiven wie im Negativen. Vor der Bühne steht man breitbeinig und riecht bierdunstig, auf der Bühne steht man, wenn man ein Mann ist. Die Festivalmoderatorin, die einige Acts ansagt, erntet feixende Sprechchöre: „Ausziehen, ausziehen“. Ja, so ist das bei Mainstream-Festivals. Aber muss das sein?

So jung und so weiblich ist die Crowd bei Rock am Ring selten

Offenbar nicht überall. Es ist kurz vor fünf an der Orbit Stage, wo die junge Frau mit dem Edding-Statement auf den Schienbeinen sitzt. Wenn es eine alternative Crowd gibt auf diesem Festival, wo schwarze T-Shirts dominieren, dann findet man sie gerade hier. Man trifft Männer mit Ohrringen und Frauen mit bunten Haaren, auf den T-Shirts sieht man Regenbögen oder St. Pauli, den linken Teil Hamburgs.

Ein Langhaariger mit Jesus-Kostüm und erstaunlich schönen Augen steht für Segnungen und Selfies zur Verfügung, ein Teenagermädchen mit Zahnspange und pastellrosa Handyhülle wartet neben einem Typ im Stinktierkostüm auf die Band. So jung, bunt und so weiblich ist das Publikum wohl selten vor einem Rock-am-Ring-Auftritt.

The Linda Lindas sind noch neu im ganz großen Rockzirkus, nicht mal ein Banner haben sie dabei – ihre Punksongs spielen sie umso selbstbewusster.
The Linda Lindas sind noch neu im ganz großen Rockzirkus, nicht mal ein Banner haben sie dabei – ihre Punksongs spielen sie umso selbstbewusster.
Foto: FInn Holitzka

Der Grund dafür: Die erwartete Band ist es auch. The Linda Lindas kommen aus Kalifornien, die vier Musikerinnen sind zwischen 11 und 17 Jahren alt. Und sie spielen Punkrock. Bekannt wurden sie während der Pandemie mit dem Song „Racist, Sexist Boy“, aufgenommen in einer Bücherei. Männerquote auf der Bühne jetzt: 0 Prozent.

Eine absolute Seltenheit. Die weiblichen Künstlerinnen beim bisherigen Festival hatte man an einer Hand abzählen können – die Bassistin bei Maneskin, ein Bandmitglied von Akuma Six, Backgroundsängerinnen bei Jan Delay und Marteria.

Wenige Akkorde, viel Spaß: The Linda Lindas begeistern bei Rock am Ring

Festivalmacher und Konzertagenturen werden an dieser Stelle einwenden, dass es eben nicht so leicht sei, weibliche Künstlerinnen zu finden, die mit der nötigen Erfahrung und Routine einen garantierten Gegenwert zu den sündhaft teuren Festivaltickets schaffen. Sicherlich nicht komplett falsch: Viele Fans kaufen eben mit Blick auf große Namen, und die sind dann eben schon seit den Neunzigern dabei – und meistens Männer.

Auch mancher Fan vor der Orbit Stage hat an diesem Nachmittag seine Zweifel: „Ob die wohl zu jung sind, um Moshpits anzuzetteln?“, philosophiert ein Festivalbesucher mit seiner Begleitung. Schließlich sind The Linda Lindas eher im Schülerband- als im Festivalalter. Nach 22 Uhr dürften sie zum Beispiel gar nicht mehr spielen, das deutsche Jugendschutzgesetz ist da strikt.

I think every colour can be punkrock.

Lucia de la Garza, Gitarritin von The Linda Lindas

Die Bedenken, dass man hier nicht auf seine Kosten kommen könnte, verfliegen aber nahezu sofort, als The Linda Lindas auf die Bühne hüpfen. In wasserballbunten Kleidern und mit strahlendem Lächeln im Gesicht greifen sie zu den Instrumenten. Bassistin Eloise Wong hat mit Schnurrbarthaare auf die Wangen gemalt, als käme sie gerade vom Kinderschminken einer Kirmes. Im Kontrast dazu ihr bedrohlich dröhnender Growl-Gesang, quasi schon höhere Punkrockschule.

Selbst, wer vom ersten Festivalabend noch Green Day und The Offspring, ausgewiesene Punk-Legenden im Ohr hat, muss anerkennen: Technisch sind die vier jungen Frauen versiert, singen abwechselnd und mehrstimmig, mit wenigen Akkorden und dafür umso mehr Spielwut. In den Texten geht es um gemeine Jungs auf dem Schulhof und ums Älterwerden, manchmal sogar auf Spanisch. Wer noch einen Beweis brauchte, dass man sich hier nicht den Ältestenrat der Gitarrenmusik anhören muss, um Spaß zu haben, findet ihn hier.

Kritik am männerlastigen Programm wird immer häufiger laut

Das dürfte denen Bestätigung geben, die den Männerüberschuss auf Festivals wie Rock am Ring kritisieren. Der erste Konzerttag war noch nicht verhallt, da ging bei Spotify eine Playlist online, die die Rock-am-Ring-Verantwortlichen eher weniger gefreut haben dürfte. Nicht nur wegen des Titels, der ein derbes Wortspiel mit dem Namen des Traditionsfestivals in der Eifel ist, sondern auch wegen der Botschaft der Playlist.

„Cock am Ring“ heißt die Songliste, ein bissiger Hinweis darauf, dass auf dem Nürburgring fast ausschließlich Musiker mit männlichem Geschlechtsteil unterwegs sind. Weibliche Künstlerinnen coverten für die Liste bekannte Songs männlicher Kollegen, darunter diesjährige Rock-am-Ring-Gäste wie Marteria und Billy Talent.

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Rock am Ring reagiert auf Kritik und verweist auf das Personal

Kritik, die bei Rock am Ring zumindest registriert worden ist. Matt Schwarz, Chef der Veranstalterfirma Dreamhaus, hatte im Vorfeld erklärt: „Wir haben zentrale Bereiche und Führungspositionen bei Rock am Ring weiblich besetzt, von der Veranstaltungs- und Festivalleitung, Ticketing-, Marketing- und PR-Leitung über das komplette Festivalproduktionsbüro, das Akkreditierungsteam und diverse Produktionsleiterinnen der einzelnen Bühnen.“

Mit der Einladung an The Linda Lindas kann man jetzt sogar darauf verweisen, eine Band mit einer Männerquote von 0 Prozent auf die Bühne geholt zu haben. Noch dazu eine richtig gute. Doch ob das mehr ist als nur ein Feigenblatt? Solch strukturelle Veränderungen brauchen Zeit, so viel ist klar. Und auch die Fans müssen mitziehen. Ein nächster Schritt wäre es, weibliche Künstlerinnen, nicht nur die in der zweiten Reihe, sondern auch auf die Hauptbühnen zu stellen – die Orbit Stage, auf der The Linda Lindas an diesem Tag ein gutgelauntes Konzert spielen, ist die einzige, die nicht in der Fernsehübertragung berücksichtigt wird.