Nürburgring

Fans meckern über Line-up: Liegt es am Programm, dass Rock am Ring nicht ausverkauft ist?

Von Tim Kosmetschke, Johannes Mario Löhr, Mona Wenisch
Mehnersmoos besteht aus Frederik Moos und Tobias Mehner.
Mehnersmoos besteht aus Frederik Moos und Tobias Mehner. Foto: Kevin Rühle/Kevin Ruehle

Das Gemecker über die Bandauswahl bei Rock am Ring ist ungefähr so alt wie das Festival selbst – den einen fehlen „echte Headliner“, anderen gibt es viel zu viel Pop, vom Hip Hop ganz zu schweigen. Auch in diesem Jahr wird geschimpft. Liegt es am Line-up, dass das Festival in diesem Jahr nicht ausverkauft ist? Oder an den Ticketpreisen? An beidem in Kombination? Eine Spurensuche.

Lesezeit: 7 Minuten
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„Das ist nicht mehr Rock am Ring, das ist Pop am Ring. Oder Rap am Ring.“ Patrick aus Duisburg bringt auf den Punkt, was viele Puristen denken, die sich das Line-up des Festivals anschauen. Der Unterschied zwischen Patrick und den anderen: Der 33-Jährige hat sich dennoch eine Karte gekauft und ist mit seinen Freunden wieder in die Eifel gekommen. So wie seit vielen Jahren.

Viele andere hat wohl irgendetwas abgehalten. Das Festival ist in diesem Jahr bei weitem nicht ausverkauft. Nach Tag eins hieß es seitens der Veranstalter von Dreamhaus, die seit zwei Jahren für den Event-Klassiker verantwortlich zeichnen, dass „über 70.000 Fans enthusiastisch den Beginn der Festivalsaison am Nürburgring“ feierten. Da ist Luft nach oben: In guten Jahren bevölkerten auch schon mal mehr als 90.000 Ringrocker die Rennstrecke. Die These, dass das Programm, die Auswahl an Bands, in diesem Jahr nicht genug überzeugt hat, um die gestiegenen Ticketpreise zu tolerieren, macht beim Festival die Runde.

War früher alles besser?

Und nicht nur dort: Scrollt man durch die Kommentarleisten diverser Rockforen und scannt Social Media, findet man zuhauf User, die das diesjährige Line-Up allgemein für zu schwach halten. Besonders mit Blick auf den satten Preis von knapp 300 Euro fürs Wochenendticket. Von den weiteren zu erwartenden Ausgaben etwa für Essen und Getränke auf dem Festivalgelände ganz zu schweigen.

Musikfestival
Früher war mitnichten nur Rockmusik am Ring angesagt: 2008 treten die Rapper von Culcha Candela auf.
Foto: Thomas Frey/picture-alliance/ dpa

„Insgesamt sind mir das schon zu wenige Rockbands – das war früher anders“, sagt Henk, 46. Er ist gemeinsam mit Freunden im gleichen Alter am Freitag von der Mosel angereist – mit Tagestickets im Gepäck. Vor allem wegen der Foo Fighters. Auch Tobi, 45, selbst Musiker, sagt: „Das Line-up hat sich stark verändert, ich muss sagen: Die allermeisten Bands sagen mir gar nichts.“ Torben, 46, erinnert sich an große Auftritte großer Bands am Ring. Das war früher. Welche von den aktuellen Bands in diese Kategorie passt? Foo Fighters, Hosen, vielleicht Kings Of Leon, die aber nicht sicher. Dann bleibt Schulterzucken. Henk fragt sich nachdenklich: „Vielleicht ist Rock auch einfach wirklich tot.“

Von Chris de Burgh bis Gianna Nannini

„Früher“: Es fällt auf, dass viele Besucher, mit denen wir über das Festivalprogramm plaudern, als Referenz dieses leicht unbestimmte, vielleicht nostalgisch verklärte Gestern ins Feld führen. Je nach Alter ist dieses „Früher“ freilich völlig anders besetzt. Rock am Ring gibt es seit 1985, bei der Premiere spielten Bands und Künstler wie US, Foreigner, Saga, Joe Cocker, aber auch Gianna Nannini und Chris de Burgh. Das „Früher“ der Mittvierziger Henk, Tobi und Torben fällt dann eher in die späten 90er und frühen Nullerjahre, als etwa Metallica, Pearl Jam, Muse, die Peppers, Kiss und Iron Maiden ihre Gitarren hinter der Boxengasse einstöpselten.

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Es gibt eben kein einheitliches Bild, kein wirklich „echtes Rock am Ring“. Wie würden etwa Puristen auf einen Künstler wie Eros Ramazotti reagieren (1991 am Ring)? Oder Zucchero (1996)? Xavier Naidoo (1999)? A-Ha (2001)? Unvergessen der Abend im Jahr 2003, als Rea Garveys Band Reamonn kurz vor Metallica auf der Hauptbühne terminiert war – in jeder Songpause sang gefühlt der komplette vordere Zuschauerbereich in überwältigender Lautstärke den Refrain von Metalicas „Enter Sandman“: „Exit light, enter night, take my hand...“ „Supergirl“ hatte es danach schwer.

Was die Veranstalter dazu sagen

Kritik am Line-up ist den Veranstaltern natürlich geläufig. Gegenüber der dpa fällt die Reaktion gelassen aus: „Rock am Ring war schon immer ein Mainstreamfestival“, sagt Pressesprecherin Steffi Kim. „Im Herzen ist es Rock, aber wir waren schon immer offen und sind auch weiterhin offen für unterschiedliche Genres, um den Besucher*innen einfach ein breitgefächertes Musikspektakel bieten zu können.“

Sie findet Zustimmung bei Jannis (25) aus Koblenz, der auch sagt, dass Rock am Ring schon immer ein „Mainstream-Festival“ gewesen sei – also den jeweiligen musikalischen Zeitgeist abdecken müsse. Und der sei heute eben auch von Hip-Hop und Rap geprägt. Jannis sagt auch: „Und ich würde nicht behaupten, dass wir hier zu wenig Gitarrenmusik haben.“

Zu wenige Gitarren – diesen Vorwurf kann man insbesondere den Foo Fighters sowieso nicht machen. Bei aller vielleicht auch nachvollziehbaren Kritik am Festivalprogramm 2023 bleibt objektiv gesehen festzuhalten, dass Dreamhaus mit der Verpflichtung der US-Alternative-Legende ein Coup gelungen ist: Aktuell ist mutmaßlich weltweit keine andere Rockband über Geschmacksfragen hinweg so konsensfähig, grundbeliebt, glaubwürdig. Und gut.

Foo Fighters und Hosen: Säulenheilige des Rings

Sie am Tag der Veröffentlichung ihres neuen Albums, des ersten nach dem plötzlichen Tod von Schlagzeuger Taylor Hawkins, auf einer deutschen Festivalbühne stehen zu haben – das ist große Rock-'n'-Roll-Dramatik. Entsprechend emotional geriet auch der Auftritt am späten Freitagabend auf und vor der Hauptbühne. Und mit den Toten Hosen am Sonntag stehen weitere Säulenheilige des Rings im Programm – alles falsch gemacht haben die Planer also nicht.

Frontmann der Foo Fighters ist der ehemalige Nirvana-Schlagzeuger Dave Grohl.
Frontmann der Foo Fighters ist der ehemalige Nirvana-Schlagzeuger Dave Grohl.
Foto: Kevin Rühle/Kevin Ruehle

Und doch will die Kritik nicht verstummen, auch am mit gewisser Spannung erwarteten „Late Night Special“ des megaerfolgreichen deutschen Rapmusikers Apache 207, der gemeinsam mit Panikrocker Udo Lindenberg einen der größten Hits der vergangenen Jahre gelandet hat: „Komet“. Fans wie Patrick hadern dennoch mit der Ansetzung: „Ein Late-Night-Special bei Rock am Ring – sollte da nicht eine Rockband spielen?“, fragt er rhetorisch.

Puristen gegen Modernisten, Rockfans gegen „Alles-Hörer“, Metalkutten gegen Hipsterfummel – es bleibt eben kompliziert. Die Programmmacher haben die Aufgabe, alle Interessen und Bedürfnisse gegeneinander abzuwägen, das Ganze schließlich auch mit den vorhandenen Möglichkeiten zusammenzubringen: Welche Bands sind überhaupt verfügbar? Und bezahlbar? Es ist die Quadratur des Kreises.

Was sind die Erfolgsfaktoren von Festivals?

„Das Musikfestival muss trend- und zielgruppengerecht bezüglich der angebotenen Künstler am Markt positioniert werden. Das Programm sollte eine gute Mischung aus bekannten und unbekannteren Bands aufweisen.“ Das schreibt David Eck in seiner Bachelorarbeit von 2015, in der er Erfolgsfaktoren von Musikfestival untersucht hat. Dazu hat er (neben der Beleuchtung vieler weiterer Aspekte wie Marketing und Organisation) unter anderem Festivalbesucher gefragt, was sie von einem Line-up erwarten – und was dies für die Organisatoren bedeutet.

Eine Erkenntnis – wenig überraschend: Die Headliner verleiten zum Ticketkauf, die anderen Bands dienen der Abwechslung und bieten Gelegenheit, neue musikalische Eindrücke zu gewinnen. Die Mischung macht es also.

Die Fans feiern zu den humoristischen Texten von Mehnersmoos.
Die Fans feiern zu den humoristischen Texten von Mehnersmoos.
Foto: Kevin Rühle/Kevin Ruehle

Aber: „Bei der Wahl der Bands muss darauf geachtet werden, dass sie in die jeweilige musikalische Ausrichtung des Musikfestivals passen. Dabei sollte ein nötiges Maß an Kongruenz [Stimmigkeit, Deckungsgleichheit; Anm. d. Red.] im Line-up bestehen um nicht verschiedene Musikstile zu vermischen. Diese Kongruenz bei der Bandauswahl erleichtert auch die Vermarktung, da nur ein Zielgruppensegment bedient werden muss.“

Was aber ist eigentlich die Zielgruppe von einer Massenveranstaltung wie Rock am Ring? Metalheads? Alternative Rocker? Punks? Oder (junge) Menschen, die einfach gern Livemusik hören, dazu feiern und für ein paar Tage die große Freiheit eines Festivals mit Dosenbier, Grillfleisch und Flunkyball-Meisterschaften erleben wollen? Und gibt es überhaupt noch vom Musikstil definierte Jugendkulturen?

Junge Leute hören alles – und nichts

Louisa schüttelt energisch den Kopf. Die 18-Jährige ist erstmals bei Rock am Ring, besucht das Festival tageweise mit ihren Eltern. „In meinem Alter gibt es kaum noch Leute, die sich richtig für eine bestimmte Musikrichtung interessieren und das dann auch so leben.“ Louisa liebt Metal, auch Punkrock. Sie findet einzelne Bands im diesjährigen Ring-Line-up, für die sich begeistern kann – aber eben auch vieles, das weit außerhalb ihres Geschmacks liegt. Egal.

Dennoch findet sie die „Alles ist möglich“-Programmpolitik am Ring schwierig, auch weil sie in ihren Augen zwangsläufig dazu führt, dass man kaum einschätzen kann, wie das Publikum, wie die Stimmung sein wird. „Ein inhomogenes Publikum kann zu einem höheren Konflikt- und Aggressionspotenzial führen und der allgemeinen Stimmung schaden“, schreibt auch David Eck in seiner Bachelorarbeit.

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Sonnig, fröhlich, friedlich

Davon ist Rock am Ring freilich auch 2023 an Tag eins weit entfernt – der Festivalauftakt war sonnig, fröhlich, friedlich. Da kann Dreamhaus-CEO Matt Schwarz durchaus von einem „furiosen Auftakt“ sprechen: „Foo Fighters und Apache 207 waren absolute Highlights des ersten Tages, getragen von der Euphorie der Fans eingebettet in der Kulisse des Nürburgrings bei bestem Wetter“, heißt es in einer Mitteilung, die die musikalische Spannweite des ersten Tages gut zusammenfasst – und den überraschenden, frenetisch gefeierten “Special Guest„-Auftritt von Schlagerlegende Olaf von den Flippers im roten Paillettenjacket noch nicht einmal erwähnt.

Möglicherweise – und das ist am Ende vielleicht das versöhnliche Fazit – ist die Musikauswahl gar nicht mehr der wichtigste Punkt bei einem Festival. Das Gesamterlebnis steht im Vordergrund, ist in sich schon ein geschlossenes Konzept. Auch dazu findet sich eine Erkenntnis in David Ecks Arbeit: “Den Festivalbesuchern ist mehrheitlich wichtig, dass sie neue Kontakte auf dem Festival knüpfen. Das Festival wird als Treffpunkt Gleichgesinnter angesehen.„ Darauf ein Dosenbier.

Lieber auf der Couch mitrocken?
Was möglicherweise ebenfalls zur Abstinenz mancher Musikfans beiträgt: Das Festival ist erneut in einem umfassenden Livestream im Internet zu sehen. RTL+ überträgt an allen drei Tagen das Programm über den Dienst tvnow.de von den beiden Hauptbühnen – kostenfrei.

Am späten Freitagabend allerdings gab es Kritik, wie unter anderem der “Trierische Volksfreund" berichtet: Der mit Spannung erwartete Auftritt von Apache 207 wurde nicht übertragen, nach Angaben von RTL+ aus lizenzrechtlichen Gründen. Da waren Ringgäse also gegenüber Couchrockern im Vorteil.