Vietnam – das geht nun wirklich unter keinen (Reis)-Hut

Südostasiens sozialistische Republik lebt durch ihre Kontraste. Eine Rundreise in Momentaufnahmen

Lesezeit: 5 Minuten
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Von unserer Redakteurin Nicole Mieding

Die Jagd nach dem perfekten Bild

Ein klimatisierter Bus schaukelt die Journalisten über Land. Der Straßenzustand und strikte Radarkon-trollen sind dem Vorankommen hinderlich. Links und rechts der Straße endlose Reisfelder. „Wünschen Sie einen Fotostopp?“, fragt der freundliche Herr Lam, unser Reiseführer. „Nein!“, schreit's von vorn, „Auf jeden Fall!“ aus den hinteren Reihen. Der Bus verlangsamt sein Tempo, schert auf den Seitenstreifen aus und rollt nach kurzer Diskussion zwischen Fahrer, Führer, Insassen und Dolmetscher wieder an. So geht das eine ganze Weile. Am Busfenster ziehen Reisfelder in schönster Postkartenansicht vorbei.

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Foto: Mieding

Irgendwann wird es selbst unserem asiatisch-freundlichen Reiseführer zu dumm. Er macht, was er sonst eigentlich nie tut: Er handelt eigenmächtig und befiehlt dem Busfahrer, den Bus anzuhalten. „Es könnte sein, dass wir später keine Reisfelder mehr auf unserem Weg haben“, erklärt der jetzt doch schon sacht resolute Herr Lam, der beauftragt wurde, den deutschen Pressevertretern sein Land von der besten Seite zu zeigen. Die ersten Journalisten raffen ihre Kameras und wollen aussteigen, um die Bauern bei der Reisernte abzulichten. „Weiterfahren“, ruft da eine Kollegin empört. „Diese Bauern haben doch gar keine Hüte an!“

Angriff der Killervespen

Beim Versuch, in Hanoi eine Straße zu überqueren, ist man gut beraten, nicht lang nach links und rechts zu sehen. Wer als Fußgänger wartet, bis ihm die attackierende Front aus Motorrollern, Autos und Fahrradrikschas eine Lücke lässt, ist verloren. Vor allem, wenn er ohne den netten Herrn Lam unterwegs ist, der seine Schutzbefohlenen bestimmt wie ein Verkehrspolizist durch den Fahrzeugstrom lotst.

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Foto: Mieding

In diesem Fall hilft nur: ruhig bleiben, Arm rausstrecken, Augen geradeaus richten und beherzt einen Schritt vor den anderen setzen. Nicht, dass die übrigen Verkehrsteilnehmer davon groß Notiz nähmen: Die rollen mit unverminderter Geschwindigkeit auf einen zu. Und genau daran liegt das Geheimnis. Tempo beibehalten, keine unberechenbaren Ausweichmanöver einleiten. Den Rest erledigt die Daumenpeilung.

Cocktail zum Frühstück

Traditionelle Medizin ist in Vietnam noch weitverbreitet. Straßencafés bieten Schnaps mit eingelegten Schlangen und Skorpionen zur Stärkung an. Wen ein Zipperlein plagt, der steht in Hanois Lan-Ong-Gasse um ein Tütchen Heilkräuter an. Im Frühstücksraum des Hotels kommt es zu ost-westlichen Begegnungen. die ausländischen Gäste häufeln sich Litschis und Mangos von nie gekannter Reife auf den Teller, während die Asiaten rundherum genüsslich ihre Nudelsuppe schlürfen. Der Blick geht zum Nachbartisch, wo vier vietnamesische Geschäftsfreunde beim Essen schäkern.

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Foto: Mieding

Die Herren im Freizeitlook scheinen sich gut zu kennen. Nach dem letzten Gang zum Büfett packt der älteste eine Blisterpackung aus, drückt zwei Tabletten heraus und gibt anschließend eine Runde Blutdrucksenker und Magenmittel aus. Der Westen bringt die moderne Medizin ins Land. Und seine Volkskrankheiten.

Baden im Plastikmüll

Die Ha-Long-Bucht zählt zum Weltkulturerbe. Sie zieht so viele Touristen an, dass die Ausflugsdschunken in der Hochsaison hier Polonaise tanzen. In der Nebensaison lässt sich der Zauber dieser Wasserlandschaft aber hier und da erleben. Die Felsformationen im Meer sehen aus, als hätte ein Riese beim Ringen mit dem Seeungeheuer seine Backenzähne verloren. Frühmorgens steigt Nebel auf, am Abend geht die Sonne ausgiebig baden. Um ins südwestchinesische Meer leibhaftig einzutauchen, schippern Kapitäne ihre Ausflugstouristen im Tenderboot zu einer Badebucht. Rund 2000 Inseln liegen im Golf von Tongking, einsam ist gerade diese leider nicht.

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Foto: Mieding

Auf dem handtuchbreiten Strand von der Länge einer Bushaltestelle drängeln sich ein paar Bambusliegestühle. Die sind aber leider für Passagiere der Fünfsternedschunken vorbestellt. Der große Rest drängelt sich im seichten Wasser, mit algenbewachsenen Tauen ist eine swimmingpoolgroße Fläche abgetrennt. Wegen tropischer Temperaturen kommt es dennoch zum Schwimmversuch. Der führt im Zickzack um Badende und durch Dieselduft der tuckernden Tenderboote. Der Blick fällt auf von der Unesco geschützte Felsformationen. Mit leisem Knistern schwimmt eine Schar Plastiktüten vorbei.

Original oder Fälschung?

Selten sieht man auf den Straßen so viele Gucci-Handtaschen. Westliche Labels werden in Vietnam wie Buddha und Ho-Tschi-Minh angebetet. Was den Reichen lieb und teuer ist, gibt es in Saigons edlen Shoppingmalls – oder bei den Straßenhändlern zu Spottpreisen. Auf dem Schwarzmarkt herrscht die gleiche Konkurrenz der Marken – die Preise verhalten sich proportional zu denen der Originale, man braucht sich nur ein paar Nullen dranzudenken.

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Foto: Mieding

In Hoi An, wo man sich auf das traditionelle Schneiderhandwerk versteht, bekommen Rundreisende notfalls über Nacht einen Maßanzug geschneidert. Um die Auswahl zu beschleunigen, können Kunden sich durch Kataloge mit Modellbeispielen blättern. Oder gleich den Werbeprospekt von Armani, Boss oder Chanel mitbringen. Fotografieren im Showroom ist verboten. „Jemand könnte unsere Entwürfe kopieren“, erklärt empört eine Verkäuferin.

Vietnams Las Vegas

Da Nang ist das Vegas von Vietnam, die westlich anmutende Provinzhauptstadt am Han-Fluss boomt seit gut zehn Jahren. Abends funkeln die Leuchtreklamen internationale Hotelketten, Touristenrestaurants und Strandresorts mit großem Blingbling um die Wette. Was einen beim Spaziergang auf der Flusspromenade irgendwie in Spielhallenstimmung versetzt. Ein paar jugendliche Streetdancer finden unter den Passanten ihr Publikum. Daneben haben sieben Paare fortgeschrittenen Alters eine kleine Stereoanlage aufgebaut. Tango überlagert den Rap.Zum Tanzmusikmedley zeigt die vietnamesische Freizeitformation etwas hüftsteif ihr Repertoire importierter Standardtänze. Ob der exotischen Darbietung für hiesige Breiten ist den Gesichtern ein dezenter Stolz abzulesen. Der macht sich in den Pausen Luft, man applaudiert sich gegenseitig. Eine Ermunterung, auf die das erfahrenste Paar offenbar gewartet hat: Forsch wagt es sich an eine Parade und erntet konsternierte Mienen. Aus der Reihe tanzen gehört sich nicht.

Schluss mit lustig

Am Abend ist Hanois Altstadt ein einziges Gelage und Gewimmel: Fahrzeuge, Flaneure und Ausgänger müssen sich die Straßen teilen. Letztere haben Fahrbahn und Gehwege mit kleinen blauen Plastikschemeln übersät. Ihr Erfinder muss stinkreich sein, weil die Hocker in vietnamesischen Kneipen quasi Standard sind. Man kauert darauf, als wär man zu Gast bei den Sieben Zwergen, und löffelt seine Suppe auf Kniescheibenhöhe vor sich hin. Da zeigt sich auch ohne den tropischen Regen, wie praktisch es ist, dass diese Möbel abwaschbar sind. Abends, statt Suppe steht auf den Schemeln die lokale Biersorte „Bia Ha Noi“, haben wir gerade einen Sitzplatz inmitten von laut feiernden Vietnamesen, Australiern und Holländern gefunden, als uns unser einheimischer Guide zuzischt: „Los, aufstehen! Wir dürfen hier nicht sitzen.“

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Foto: Mieding

Alles scheint aufgescheucht, sekundenschnell haben sich einige Hundert Nachtschwärmer in die Seitenstraßen vaporisiert. Die leeren Schemel stehen fein säuberlich vor den Kneipen gestapelt. Auf der nun wieder befahrbaren Straße hält ein Lieferwagen. Eine Razzia. Zwei Uniformierte steigen aus, schauen sich um und sind offenbar zufrieden. „Um Mitternacht kommen die noch mal“, erklärt uns ein Einheimischer. „Zur Sperrstunde machen die Wirte sogar für einige Minuten das Licht aus.“ Die Regeln dieses Spiels sind offenbar allseits akzeptiert. Als das Polizeiauto um die nächste Ecke biegt, ist das Partyvolk samt Plastikschemeln jedenfalls wieder zurück.