Kein Hemd – keine Schuhe – kein Problem: In Florida ist das Leben lässig
In Ermangelung einer anderweitigen Erhebung fahren wir noch ein Stückchen weiter südwärts bis zum Leuchtturm am Ponce de Leon Inlet. Die Wendeltreppe hinauf auf den höchsten Leuchtturm des Bundesstaates ist zwar nichts für Couchsurfer, aber mit einem kurzen Zwischenstopp zum Luftholen klappt's schon. Der gigantische Ausblick entschädigt für den unfreiwilligen Frühsport. Pelikane ziehen ihre Kreise über Halifax River und Indian River, die sich hier mit dem Meer vereinen. Die Sonne strahlt, die Wellen glitzern, und der Blick geht meilenweit die Küste entlang. Und obwohl sich in der Ferne die Hotelriesen durch den Morgendunst bohren, bekommt man von hier oben schon eine erste Ahnung davon, welche Naturschätze im Gewühl der Wasserwege darauf warten, mit dem gebotenen Respekt entdeckt zu werden. Wir müssen nicht mal zurück ins Auto, um mit der ersten Entdeckungstour zu beginnen. Wenige Schritte vom Leuchtturm entfernt, wartet ein kleines Flachbodenboot. Wir fahren hinaus aufs Inlet, wild entschlossen, im Gewirr der Wasserwege Delfine und Manatis zu entdecken. Die Augen verengt, suchen wir die glitzernde Wasseroberfläche ab. Da! War da was? Nein, nur eine Welle, die sich am Mangrovenwäldchen brach.
Mit zunehmender Fahrt werden die suchenden Passagiere immer ruhiger. Nicht aus Enttäuschung, weil sich die Delfine nicht blicken lassen. Eher, weil eine wundersame Form der Entschleunigung einsetzt. Unter den wachen Blicken der Pelikane und Kormorane, über den sanft plätschernden Wellen, kommen die gestressten Seelen zur Ruhe. Am Ende der einstündigen Bootsfahrt bin ich fast ein wenig erleichtert, dass wir hier keine gefährdeten Tiere aufgescheucht haben. Das geht offensichtlich nicht allen so. Bei manchem Wassersportler, der mit Karacho durch die schmalen Wasserstraßen pflügt, fehlt es dann doch etwas an Demut für die Schöpfung. Da helfen auch die gut lesbaren Schilder nicht, die überall mit „Manatee Zone – slow speed ...“ auf das empfindliche Ökosystem hinweisen.
Im Marine Science Center, nur einen kurzen Fußweg vom Bootssteg entfernt, treffen wir auf ganz andere Menschen. Hier, wo die Kinder Stachelrochen streicheln dürfen und alles über die Natur am Meer erfahren, kümmern sich erfahrene Kräfte und überzeugte Freiwillige um verletzte Tiere. Meist sind es Schiffsschrauben, die für neue Patienten sorgen. Gerade wird eine riesige Meeresschildkröte an der rechten Vorderflosse verarztet. „Sie wird wieder gesund“, sagt ein Helfer. „Dann kann sie auch in der freien Natur wieder überleben.“
An Floridas Nürburgring geht es rund
Wir fahren weiter nach New Smyrna Beach, besuchen das sehenswerte Künstlerhaus Hub on Canal und schauen uns im Zentrum um. Das Städtchen wirkt, wie aus einem amerikanischen Kinofilm entsprungen. Menschen schlendern durch die Canal Street und bewundern die alten und extravaganten Autos, die hier immer am zweiten Samstag im Monat gezeigt werden. Ein Plausch an der Motorhaube. Ein Eis für die Kids. Die Sonne lacht. Ein wunderbarer Nachmittag.
Eine Autoshow der ganz anderen Art wartet etwa 20 Kilometer nördlich auf uns. Am Daytona International Speedway, wo an den Rennwochenenden allein auf der riesigen Haupttribüne mehr als 100.000 Motorsportfans die Rennen verfolgen, ist eigentlich immer was los. Wie auf dem Nürburgring. Mit dem kleinen Unterschied, dass sich die Touristikfahrer mit ihren Straßenwagen hier in die berühmte 31-Grad-Steilkurve wagen. Als Beobachter hält man da bei manchem japanischen Kleinwagen schon mal den Atem an. Aber irgendwie klappt's. Im Infield, der riesigen Fläche innerhalb des Ovals, ist es heute vergleichsweise ruhig. Eine gute Gelegenheit, sich an der Ziellinie umzusehen und auf dem Gelände Fotos für die diversen Social-Media-Kanäle zu schießen.
Fachsimpeln über das deutsche Reinheitsgebot in der Persimmon Hollow Brauerei
Zurück ins echte Leben. Wir nutzen unsere erste Station noch für einen Abstecher nach Westen ins Landesinnere nach DeLand – dem Inbegriff der typischen amerikanischen Kleinstadt. Als Besucher aus Deutschland ertappt man sich bei dem Versuch, hinter die schmucken Backsteinfassaden zu schauen – nur um ganz sicher zu gehen, dass das hier auch wirklich nicht nur eine Filmkulisse auf der grünen Wiese ist. Ist es nicht. Und so verbringen wir einen schönen Abend mit kommunikativen Einheimischen am Tresen der Persimmon Hollow Brauerei. Mit Deutschen gehört eine Diskussion über das Reinheitsgebot (natürlich!) dazu. Aber auch ansonsten öffnen die Bewohner hier gern ihre Herzen. Nur ein Thema sollte man von sich aus nicht offensiv ansprechen: Politik. Donald Trump hat auch hier, wie überall anders in den Staaten, dafür gesorgt, dass sich eine unsichtbare Linie durch die Bevölkerung zieht. Der Abend serviert uns allerdings die Erkenntnis: Das frisch gezapfte Bier schmeckt mit erklärten Gegnern des US-Präsidenten genauso gut wie mit seinen unerschütterlichen Anhängern.
Am nächsten Morgen verlassen wir unser Hotel am Daytona Beach und fahren weiter in Richtung Norden. Schnell haben wir die letzten Bettenburgen hinter uns gelassen. Von nun an begleiten uns rechts der fast menschenleere Atlantikstrand und links sumpfig-grüne Naturschutzgebiete. Mein Begleiter schaut auf die Uhr, grinst in sich hinein und hält den Wagen am Flagler Beach an. Jetzt schon Kaffeepause? Nein, wir gehen am kleinen Kiosk schnurstracks vorbei auf den Pier und schauen gebannt nach Süden. Wenige Minuten später zieht sich ein leuchtender Punkt mit langem weißem Schweif hinauf in den wolkenlosen Himmel. Wir verfolgen live und in Farbe, zwei Autostunden entfernt vom Kennedy Space Center, den Start einer Trägerrakete von Cape Canaveral. Ich bin angemessen beeindruckt von der äußerst akribischen Reisevorbereitung meines Begleiters und nehme mir vor, demnächst auch mal öfter vorab im Internet nach sich ankündigenden Höhepunkten entlang der Strecke zu schauen. Obwohl ich mich ja eigentlich viel lieber überraschen lasse ...
Zeitvertreib in St. Augustine: Haifischzähne sammeln
Nächster Halt: St. Augustine. Schon wieder so ein Ort entlang der Route, an dem man getrost seinen ganzen Urlaub verbringen könnte. Am Strand versuche ich mich in einer Art Volkssport der Region: die Suche nach Haifischzähnen. Einige Einheimische präsentieren mir stolz ihre Funde. Unzählige große und kleine, manchmal schon versteinerte Zähne des Raubfischs haben Sie im Laufe der Jahre gefunden. Aber irgendwie muss ein Trick dabei sein. Denn so konzentriert ich auch den Blick auf den Sand richte, kein Zahn lässt sich blicken. Nicht mal ein Zähnchen. Wahrscheinlich wird das Geheimnis der perfekten Zahnfindetechnik hier nur im engsten Familienkreis von Generation zu Generation weitergegeben ...
Nach einem Tag in der Stadt mit Einkaufsbummel und Besichtigungen – mein Tipp: unbedingt ins Flagler College reinschauen –, voller stolzer Geschichte und floridianischer Geschichten, machen wir uns auf zum Ziel unserer Fahrt: Amelia Island. Schon bei der Einfahrt ins Inselstädtchen Fernandina Beach wird klar: Das ist das andere Florida. Viele Häuser mit ihren Verandas, Schaukelstühlen und blühenden Vorgärten könnten auch in Savannah oder Charleston stehen. Der ganze Ort versprüht den Charme der Südstaaten. Jetzt verstehen wir auch, warum man uns schon zu Beginn unserer Reise gesagt hat: „Je weiter du in Florida nach Norden fährst, umso weiter kommst du in den Süden ...“
Die 12.000 Einwohner begrüßen zwar satte 700.000 Touristen im Jahr, aber trotzdem kommt dieses Fleckchen Erde ohne reine Touristenzentren aus. Die Insulaner leben nicht nur von den Gästen, sondern mit ihnen.
Stars wie John Travolta oder Stephen King lieben Amelia Island
Auch Stars lieben die unaufgeregte Lebensart auf Amelia Island. John Travolta hat hier ein Haus. Bekannte Autoren wie Stephen King und John Grisham auch. Letztgenannter kommt dann auch gern mal beim Buchfestival im Februar zur Signierstunde in den kleinen Buchladen an der Hauptstraße.
Im Hotel treffen wir Claudia Doniat. Sie arbeitet hier und begrüßt uns in sauberem Deutsch mit unverkennbarem amerikanischen Slang. Sie ist in Lutzerath in der Eifel aufgewachsen und hat die Welt kennengelernt. Aber als sie hier auf die Insel kam, hat sie schon in der ersten Woche ein Reihenhäuschen gesucht und gefunden. „Die Natur ist wunderbar. Die Gemeinschaft ist großartig. Und das Leben ist entspannt“, sagt sie – und die Hotelgäste um sie herum nicken ein wenig neidisch mit den Köpfen. Ja, hier könnten wir auch „kleben bleiben“. Wiederkommen werden wir auf jeden Fall.