Durch den wilden Kaukasus: Unsere Reporterin berichtet aus Aserbaidschan

Aserbaidschan lockt mit unberührter Natur – und kann doch auch ganz anders. Unsere Reporterin berichtet von einer mehrtägigen Reise durch ein weitgehend unbekanntes Land.

Lesezeit: 8 Minuten
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„300 Touristen kommen pro Jahr in unser Dorf. Werden es noch weniger, müssen wir wegziehen.“ Wanderführer Faig Bekirov wohnt mit seiner Familie im Bergdorf Khinalig.
„300 Touristen kommen pro Jahr in unser Dorf. Werden es noch weniger, müssen wir wegziehen.“ Wanderführer Faig Bekirov wohnt mit seiner Familie im Bergdorf Khinalig.
Foto: Agatha Mazur

Von unserer Reporterin Agatha Mazur

Wandern? Ahmed begreift das nicht. Diese verrückten Deutschen kommen in den Kaukasus und möchten einfach so durch die Berge laufen. Unser Dolmetscher erscheint zur Wandertour im kaukasischen Bergdorf Khinalig wie jeden Tag: in Anzughose, elegantem Hemd und den guten Leder-Halbschuhen. Ihm gegenüber die Touristen: In schweren Wanderstiefeln und Funktions-T-Shirts, die Fotoausrüstung baumelt am Hals, der Rucksack schwer bepackt. Ahmed ist skeptisch. Er als Einheimischer war noch nie wandern – und soll das jetzt mit einer Touristengruppe das erste Mal machen. Gemeinsam mit dem Wanderführer stiefeln wir los.

Wer nach Aserbaidschan fährt, betritt im Wortsinn Neuland. Als Reisender ist man nicht nur einer der wenigen Touristen des Landes am Kaspischen Meer, um das der Massentourismus bislang einen großen Bogen geschlagen hat. Man läuft tatsächlich auf Pfaden, die vorher keiner betreten hat. Kaum jemand kommt auf die Idee, in Aserbaidschan Urlaub zu machen. Doch warum eigentlich nicht? Der Kaukasusstaat bietet die ganze Palette: abgeschiedene Bergdörfer und glitzernde Metropolen, uralte Traditionen und modernen Lifestyle.

Mitte September, kurz nach 20 Uhr in der Hauptstadt Baku: Die Aserbaidschaner schlendern über den Boulevard. Während in Deutschland schon herbstliches Schmuddelwetter herrscht, ist es hier abends mit mehr als 20 Grad immer noch sommerlich warm. Die vielen Geländefahrzeuge auf den Straßen tragen ihren Teil zur diesigen Luft bei. Die prunkvollen Brunnen auf den Avenuen sind erleuchtet, Kinder toben herum, Leute halten einen Plausch. Der Muezzin der benachbarten Moschee stimmt bei Einbruch der Dunkelheit sein Gebet an, erst monoton, dann immer melodischer. Baku wurde früher das Paris des Ostens genannt, in einigen Stadtvierteln wähnt man sich heute noch in die Seine-Metropole versetzt. Doch die Stadt erinnert nicht nur an Paris, sie hat auch etwas von Dubai oder Mailand. Glitzer und Glamour. Mode und Schickimicki. Knapp zwei Millionen Aserbaidschaner leben in der Hauptstadt, etwas weniger als ein Viertel der Gesamtbevölkerung.

Baku verändert sich rasant, die zahlreichen Baustellen zeigen an, dass die Stadt wächst. Hungrig nach architektonischer Entwicklung ziehen die Stadtplaner ein Wolkenkratzer-Hotel nach dem anderen hoch. Wahrzeichen der Stadt sind die Flame Towers, drei Türme in Flammenform, vom prachtvollen Boulevard am Kaspischen Meer aus sieht man sie in der Dunkelheit durch Lichtspiele pulsieren oder in den Landesfarben leuchten. Die Aserbaidschaner sind ein stolzes Volk, stolz auf ihre Unabhängigkeit. Der Mann, der sie nach Zerfall der Sowjetunion und Erlangen der Unabhängigkeit regierte, heißt Heydar Aliyev. „Architekt des Landes“ nennen sie den früheren Präsidenten, der 1993 an die Macht kam und das Volk zehn Jahre regierte. Heydar Aliyevs Konterfei ziert Häuserwände und Plakate im ganzen Land. Der Personenkult geht so weit, dass nach seinem Tod eigens ein Museum für ihn gebaut worden ist.

Dort können Besucher seine Dienstautos bewundern – zwei Mercedes sind dabei – oder Foto für Foto das Reifen des jungen Heydars zum Staatsmann mitverfolgen. Das Verehrertum des ehemaligen Staatsoberhaupts ist für Mitteleuropäer durchaus gewöhnungsbedürftig, ist aber Teil des sozialistischen Erbes. In Europa gilt Heydar Aliyev als Autokrat. 2003 hat Sohn Ilham die Macht übernommen. Amnesty International beklagt, dass Menschenrechtsorganisationen drangsaliert werden. Versammlungsfreiheit existiert effektiv nicht, Behörden inhaftieren Regierungskritiker, politische Aktivisten und Journalisten. Laut Reporter ohne Grenzen rangiert das Land, was die Pressefreiheit betrifft, aktuell auf Rang 162 von 180 – Tendenz sinkend. Doch als Tourist merkt man von der repressiven Stimmung nichts. Auch, weil in Aserbaidschan „der Westen“ manchmal ganz schön weit weg ist.

Impressionen von unserer Reporterin aus Aserbaidschan.

Agatha Mazur

Impressionen von unserer Reporterin aus Aserbaidschan.

Agatha Mazur

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Agatha Mazur

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Agatha Mazur

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Agatha Mazur

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Agatha Mazur

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Agatha Mazur

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Agatha Mazur

Impressionen von unserer Reporterin aus Aserbaidschan.

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Agatha Mazur

Impressionen von unserer Reporterin aus Aserbaidschan.

Agatha Mazur

Impressionen von unserer Reporterin aus Aserbaidschan.

Agatha Mazur

Hühnergegacker und Hundegebell begleiten unsere Wandergruppe den Berg rauf. Unser Guide Ahmed läuft gemeinsam mit Wanderführer Faig Bekirov vorneweg. Die kaukasischen Berge breiten sich wie ein grün-brauner Teppich in geschwungenen Bahnen vor einem aus und münden in mehr als 3000 Meter Höhe in schroffem, rötlichem Felsengestein. Die Sonne brennt vom Himmel, ein Schäfer zieht mit seiner Herde umher. Das Gras ist rau und trocken, doch es reicht, um der Bevölkerung von Khinalig mit ihren Schafen und Ziegen ein einfaches Leben zu ermöglichen.

Das Bergdorf liegt auf mehr als 2100 Meter Höhe, dort, wo man die rötlichen Berge sieht, liegt bereits Russland. Wir sind am nördlichsten Zipfel Aserbaidschans. Kaum Licht trübt das nächtliche Erlebnis, wenn Abertausende blinkende Sterne den Himmel über dem Kaukasus in ein Sternenmeer verwandelt. Der große Wagen strahlt ganz hell dicht über dem Horizont. In Khinalig gibt es eine Moschee, einen kleinen Einkaufsladen und eine Schule. Eine Tankstelle gibt es nicht, alles Benzin muss von der nächst gelegenen Stadt aus hierhin transportiert werden. Vor bereits mehr als 5000 Jahren sollen hier Menschen gesiedelt haben. Das Dorf ist abgeschieden und hat im Laufe der Jahre seine eigene Sprache entwickelt.

Unser Wanderführer Faig Bekirov ist hier geboren. Der 28-Jährige begleitet Touristen, arbeitet als Taxifahrer und hält Kühe. Viele Jobmöglichkeiten bietet das Dorf nicht. Bekirov, in Jeans, brauner Jacke und aufgeknöpftem Hemd, hat die Reisegruppe zu sich eingeladen. Seine Frau schenkt Çay ein, starken schwarzen Tee, den die Aserbaidschaner traditionell mit Sauerkirschmarmelade oder Zitrone servieren. Mit seiner Frau und seinen Söhnen unterhält sich Bekirov normalerweise im Khinalig-Dialekt, uns beziehungsweise unserem Dolmetscher Ahmed zuliebe wechselt er ins Azeri, der aserbaidschanischen Amtssprache.

2012 hat das Paar angefangen, sein Haus zu bauen, erzählt uns Bekirov. Vergangenes Jahr sind sie mit ihren beiden Söhnen eingezogen. Sohn Tural lümmelt sich auf dem goldbestickten Sofa. Der Siebenjährige spielt auf dem Handy und klettert auf Papas Schoß. Unter der Woche sind nicht viele Touristen unterwegs, sagt Bekirov, an Wochenenden kommen mehr. Rund 300 finden den Weg ins Dorf mit seinen ärmlichen Steinhäusern – pro Jahr. Seit die Straße nach Khinalig vor einigen Jahren geteert wurde und eine sichere Verbindung zum nächstgrößeren Ort herstellt, sind viele Menschen aus dem einsamen Bergdorf weggezogen. Wer bleibt, dem zahlt die Regierung eine Prämie, rund 100 Manat pro Monat, das entspricht nach aktuellem Umrechnungskurs ungefähr 85 Euro.

Der Kaukasus rüstet skitechnisch auf

Doch Kaukasus bedeutet nicht automatisch abgeschiedene Bergdörfer. In Shahdag, gerade mal 17 Kilometer von Khinalig entfernt, wird zurzeit ein riesiges Skiareal hochgezogen, mit Fünfsternehotels, Restaurants, Wellnesscenter und Outdoorangeboten. Auf 2000 Hektar sollen in sieben bis acht Jahren 10 000 Leute die Piste runterrasen, Quad fahren oder sich im Wellnessbereich massieren lassen. Drei Luxushotels sind bereits fertig und haben geöffnet. Im September liegt allerdings noch kein Schnee, es ist gespenstisch wenig los. Dort, wo Maschinen Skipisten in den Berg treiben, klaffen die Baustellen wie braune Wunden im grünen Gebirge. Wintersport ist für die Aserbaidschaner eine völlig neue Erfahrung, es gibt lediglich zwei Skigebiete in ihrem Land. Im Winter fallen die Menschen aus Baku und Umgebung in die Berge ein, um ihren Spaß auf zwei Skiern zu haben.

Das Shahdag Mountain Resort ist ein Prestigeprojekt des Tourismusministeriums und wird entsprechend gefördert. Wie viel die Regierung hineinsteckt, will man den Journalisten nicht verraten. Der Gesandte des Ministeriums sagt nur so viel: „Wir sind auch offen für private Investoren.“ Eigentlich sollte das Resort früher fertig werden, doch der niedrige Ölpreis macht den Aserbaidschanern zu schaffen, Projekte werden aufgeschoben. Natürlich hofft man hier, wo zu Hochzeiten rund 1000 Leute arbeiten, auf eine günstigere wirtschaftliche Situation in Zukunft.

Auf die hofft auch unser Wanderführer Faig Bekirov. Früher kamen mehr Touristen, wenn es noch weniger werden, überlegt der junge Vater, mit seiner Familie wegzuziehen. Doch noch ist er da und führt die naturverrückten Deutschen in die Berge. Wanderwege, Schilder, Routen gibt es im Kaukasus nicht, das Gebirge ist touristisch das komplette Gegenteil der Alpen. Bekirov sucht sich einfach seinen Weg die grünen Berge hinauf. Trotz vermeintlich nicht wandertauglicher Kleidung legt er ein Tempo vor, dass die Wandergruppe nur so ins Schwitzen kommt. Man steigt immer höher, lässt die Schafherde hinter sich. Ein Adler! Hälse recken sich, Fotoapparate werden hektisch gezückt. Der König der Lüfte zieht unbeeindruckt seine Kreise. Man hört keinen Laut, nur der Wind säuselt ins Ohr, während der Blick über Berge und Täler schweift. Die Hauptstadt Baku mit ihrer glitzernden Skyline ist weit weg, Deutschland und Europa noch viel weiter.

Das Bergdorf Khinalig liegt auf knapp 2100 Meter Höhe im aserbaidschanischen Teil des Kaukasus. Mitten im Nirgendwo leben knapp 2000 Menschen – von Viehzucht, aber auch von Touristen.
Das Bergdorf Khinalig liegt auf knapp 2100 Meter Höhe im aserbaidschanischen Teil des Kaukasus. Mitten im Nirgendwo leben knapp 2000 Menschen – von Viehzucht, aber auch von Touristen.
Foto: Agatha Mazur

So sehr Aserbaidschan freie Presse und freie Meinungsäußerung verfolgt, so tolerant geht das zu 95 Prozent muslimisch geprägte Land mit religiösen Minderheiten um. Eine davon sind die Bergjuden, eine Gemeinschaft, die in der knapp 24 000 Einwohner starken Stadt Quba im Norden Aserbaidschans lebt. Durch ihre Universität ist Quba eine der wichtigsten Städte der Region. Isokov Pisakh empfängt uns. Der 65-Jährige ist der Vorsteher der jüdischen Gemeinde „Krasnaja Sloboda“, der roten Siedlung. Quasi ihr Bürgermeister. Dunkle Augen unter buschigen Augenbrauen blicken uns an, sein Dreitagebart ist ihm etwas peinlich. Breitwillig führt er uns durch die Straßen und erklärt uns das jüdische Leben in Aserbaidschan.

Mehr als 3000 Menschen leben im Viertel. Die Legende sagt, dass bereits im 6. Jahrhundert vor Christus, als der Tempel in Jerusalem durch die Babylonier zerstört wurde, Juden das Heilige Land verlassen und sich im Kaukasus angesiedelt haben. Nach der Oktoberrevolution 1917 konnten sie ihren Glauben nur eingeschränkt ausüben. Gab es früher zu Zarenzeiten noch 13 Synagogen, war während der Sowjetzeiten nur eine einzige geöffnet. Mittlerweile gibt es vier, in denen der jüdische Glaube praktiziert wird. In eine führt uns Pisakh.

Die Bergjuden fühlen sich in Aserbaidschan wohl

Wie in einer Moschee ist der Boden mit Teppichen ausgelegt, Besucher dürfen das Gotteshaus nur barfuß betreten. Schwere Kronleuchter hängen an der Decke, durch die geöffneten Fenster scheint die Spätsommersonne hinein, ein leichter Windzug bringt Erfrischung. Pisakh, in kariertem Hemd und Jeans, erzählt, wie die Menschen heute ihren Lebensunterhalt verdienen: Viele arbeiten als Landwirte, es gibt Händler und Ärzte. Zur Mittagszeit ist das Viertel wie ausgestorben, viele sind auf dem Feld, einige Männer vertreiben sich die Zeit in der Teestube. Von Israel erhalten die aserbaidschanischen Bergjuden keine finanzielle Unterstützung, dafür vom aserbaidschanischen Staat. Nach 1993, als Präsident Heydar Aliyev an die Macht kam, förderte er die Siedlung und unterstützte die Juden beim Häuserbauen. Als Dank schmückt ein Denkmal mit seiner Statue den Platz im Viertel.

Mittlerweile besuchen auch viele Touristen die Gemeinde. Doch warum heißt sie „Krasnaja Sloboda“, rote Siedlung? Pisakh erklärt uns, dass sie zu Sowjetzeiten so umbenannt wurde, weil rot nun mal die Farbe des Sozialismus ist. Doch der ist lange vorbei, warum benennen sie sich nicht um? Pisakh runzelt die Augenbrauen und schmunzelt: „Die ganze Welt kennt uns nun als rote Siedlung“, sagt er. So soll es bleiben.

Zurück in den kaukasischen Bergen in Khinalig. Nach unserer Wanderung sind wir wieder im Dorf. Dort gibt es erst einmal Çay, den schwarzen Tee, den die Aserbaidschaner so lieben und zelebrieren. Unser Übersetzer Ahmed ist von der Tour begeistert: „Ich war noch nie in den Bergen“, ruft er aus. Normalerweise fährt er die Touristen mit dem Auto durch die Gegend. Auf die Idee, zu Fuß ins Gebirge zu laufen, ist er nie gekommen. Schon schmiedet er Pläne: Wie könnte man die Gegend mit Markierungen versehen und Karten erstellen? Wandern hat einen Fan mehr in Aserbaidschan.