Das Welterbe erzählt uns Geschichten

Das Welterbe erzählt uns Geschichten Foto: Michael Defrance

Wer verreisen will, der findet großartige Ziele auch in der unmittelbaren Nähe: Unterwegs auf den Spuren jüdischer und christlicher Traditionen in Worms und Speyer.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

11. Jahrhundert, um das Jahr 1040 herum. Worms. Eine hoch schwangere Frau geht durch eine enge Gasse zur Synagoge. Auf einmal hört sie hinter sich Pferdegetrappel. Die wilde Reiterei kommt immer näher, jagt in die enge Gasse hinein. Die Schwangere gerät in Panik – sie weiß, dass die Reiter nicht ausweichen werden, nicht vor einer einfachen Frau aus dem Volk. Sie selbst kann nicht so schnell aus der engen Gasse fliehen. In Lebensgefahr presst sie sich gegen die steinerne Außenmauer der Synagoge. Da geschieht das Unfassbare: Die Steine werden weich, formen eine Nische aus, in der sich die Frau in letzter Sekunde verkriechen kann. Die Reiter galoppieren ungebremst an ihr vorbei, und es geschieht ihr nichts. Bald darauf bringt die Frau ihr gesundes Kind zur Welt. Einen Sohn. Salomon ben Isaak, genannt Raschi – einen der größten Rabbiner, die gelebt haben.

Stella Schindler-Siegreich, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Mainz und Worms, blickt in die verzückten Gesichter der Reisegruppe, die sie durch das jüdische Worms führt. Es ist 2014, viele Jahrhunderte später, aber die Nische, die Raschis Mutter das Leben gerettet hat, ist heute noch da. Judengasse heißt die enge Gasse heute, und auch heute käme der Spaziergänger in Bedrängnis, tauchte auf einmal die wilde Reiterei hinter ihm auf.

„Es ist eine Wundergeschichte“, sagt Stella Schindler-Siegreich. Als solche muss man sie betrachten. Historiker hätten vor allen Dingen deshalb Mühe mit ihr, weil Raschi im französischen Troyes geboren wurde und auch dort aufwuchs. Es ist verbürgt, dass er über Mainz nach Worms kam und um 1060 im damals in ganz Europa bekannten Lehrhaus studierte. Raschis Mutter, die durch das Wunder von Worms gerettet wurde, hat Worms vermutlich nie gesehen.

Aber darum geht es nicht. Die Nische an der Außenmauer der Wormser Synagoge ist im Judentum berühmt, erzählt Stella Schindler-Siegreich. „Es gibt in unserer Tradition viele Wundergeschichten. Aber es gibt nur wenige Orte, zu denen wir hingehen können, an denen ein solches Wunder geschehen sein soll.“ Die Nische gehört dazu.

Das jüdische Worms ist ganz aktuell in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt: Die sogenannten Schum-Städte Speyer, Worms und Mainz könnten von der Unesco zum Weltkulturerbe anerkannt werden – sie stehen auf Platz fünf der Tentativliste, der Vorschlagsliste. Geschichtsinteressierte können im Jüdischen Museum von Worms in alten Dokumenten lesen oder nach Speyer fahren, wo sie zum hervorragend erhaltenen Judenbad, der Mikwe, hinabsteigen können. Es wurde vor 1128 erbaut und gilt als ältestes dieser Art in Deutschland.

Einen Superlativ hat auch Worms zu bieten: den „Heiligen Sand“, den ältesten noch erhaltenen Judenfriedhof Europas. Stella Schindler-Siegreich weiß von großen Gelehrten zu erzählen, die hier begraben wurden. Ein wichtiger Gedenkort nicht nur für deutsche Juden – wie ein Besucher aus Tel Aviv zeigt, der auf der Suche nach dem Grab des Rabbiners Maharel ist, gestorben im Jahr 1427.

Und: Auch hier gibt es natürlich Geschichten. Traditionell werden Juden in Richtung Osten begraben. Nach altem Glauben wollen sie bei der Auferstehung am jüngsten Tag mit dem Gesicht in Richtung Jerusalem liegen, sich dann aus dem Grab erheben und sofort losgehen können. Nicht so die Wormser Juden, wie Stella Schindler-Siegreich erzählt. „Sie liegen in Richtung Süden begraben. Am Tag der Auferstehung können sie dann zum Mittelmeer gehen, wo ein Schiff auf sie wartet, das sie dann das letzte Stück des Wegs nach Jerusalem übersetzt.“

Die zahlreichen Grabsteine des Friedhofs sind verwittert, die Inschriften sind kaum noch zu lesen. Irene Spille vom Jüdischen Museum in Worms berichtet, wie Wissenschaftler sich Grabstein um Grabstein vornehmen, die Inschrift zu entschlüsseln versuchen, um so herauszufinden, wer dort begraben wurde. Der Stifter der Frauensynagoge konnte identifiziert werden, neben ihm ruht der Kantor und daneben die Vorbeterin. „Es ist faszinierend, wenn die mittelalterliche jüdische Gemeinde nach und nach wieder ein Gesicht bekommt“, sagt die Forscherin.

Aber nicht nur das Judentum, auch die Christenheit hat in Worms und Speyer ihre Orte, die voller Geschichte sind. Natürlich der Wormser Dom – der Dom ohne Bistum. Aber es gibt auch auf den Spuren der mittelalterlichen Christen Geschichten zu entdecken: die Doppelbänke in der Speyerer Dreifaltigkeitskirche beispielsweise.

Der Besucher ist verwirrt: Warum sollen sich die Gläubigen einander gegenübersitzen? Oder ist eine Bank gar zum bequemen Hochlegen der Füße gedacht? Nein, das ist ja gänzlich unmöglich. Gästeführerin Brigitte Wühl lächelt und versetzt die Besucher ins Jahr 1689 zurück. Die Stadt Speyer gehört aus katholischer Sicht zu den abtrünnigen Städten, die Bürger sind seit der Reformation überwiegend Lutheraner. Ludwig XIV. befiehlt, die Stadt zu zerstören. Pfälzischer Erbfolgekrieg wird man diese schreckliche Zeit später nennen. Die Bürger flüchten über den Rhein, viele nach Frankfurt. Erst zehn Jahre später kehren ein Teil der Bewohner zurück – die heutige Dreifaltigkeitskirche ist das erste öffentliche Gebäude, das nach der Zerstörung wieder aufgebaut wird. Da es sich um eine protestantische Kirche handelt, wird beim Gottesdienst sehr viel Wert auf das Hören der Predigt gelegt. Im vorderen Teil der Kirche werden daher Doppelbänke gebaut, damit sich die Gläubigen während der Predigt in Richtung der Kanzel umsetzen können. Des Rätsels Lösung!

Zum Ausklang einer Reise rund ums Weltkulturerbe muss der Besucher natürlich auch den Speyerer Dom besuchen. Den Kaisersaal mit den historischen Fresken, die Gräber der Herrscher in der Krypta. Und: den Domnapf!

Eine letzte Geschichte für heute: Vor dem Dom steht eine riesige steinerne Schale, die 1580 Liter fasst. 1294 wurde der Domnapf errichtet, und nach alter Tradition wird er bei jeder Neuwahl eines Bischofs mit Wein gefüllt – „für das gesamte Volk“, wie es heißt. Heute denkt man natürlich hygienisch; anlässlich der Feiern zum 950-jährigen Domjubiläum 2011 wurde erstmals eine 1000 Liter fassende Plastikschale eingebracht. Der Wein wurde gespendet – und genossen. Zum Wohl!

Von unserem Redakteur Michael Defrancesco

Infos im Internet: www.gastlandschaften.de