Herr Kempkes, bei dieser EM sorgten vor allem zwei Handspiel-Entscheidungen für Diskussionen. Aber der Reihe nach: Das Handspiel gegen Dänemark ist wohl regeltechnisch nicht anders zu entscheiden. Die Dänen sagen, es sei eine zu kurze Distanz sowie keine unnatürliche Handbewegung gewesen. Der dänische Spieler vergrößere zwar die Körperfläche, aber hat nicht die Intention, den Ball aufzuhalten oder Richtung Ball zu gehen. Wie haben Sie die Szene gesehen?
Jetzt haben Sie alle Aspekte der Bewertung eines Handspiels genannt, die für uns relevant sind: Distanz bewerten, Vergrößerung der Körperfläche, Intention, den Ball zu spielen. Das muss man in der Kürze der Zeit immer bewerten. Das Handspiel ist ein unglaublich schwieriger Teil des Regelwerks. Was wir aber versuchen – das gelingt natürlich nicht immer –, ist, die Szenen vergleichbar zu machen und zu sagen: Wir wollen das immer gleich bewerten. Das ist der Anspruch, den wir haben. Und deswegen versuchen wir, uns die Parameter, um die wir ein Spiel bewerten, so eng wie möglich zu halten.
Was bedeutet das genau für diese Szene?
Bei einem Handspiel wie diesem ist die Uefa klar: Der Arm ist draußen, und der Spieler hält im Strafraum mit seinem Arm, der vom Körper absteht, den Ball auf. Diese Szenen wollen wir gepfiffen haben. Dann ist das nun mal die Vorgabe. Auch wenn wir als Schiedsrichter vielleicht sagen: Fußballerisch kann ich voll nachvollziehen, dass der Spieler gar keine andere Möglichkeit hat und es bestimmt keine Absicht ist. Aber die Uefa oder auch der DFB geben es so vor – und da müssen wir einfach diese Handspiele immer gleich bewerten und pfeifen.
Was nicht jedem gefällt...
Das ist dann zwar vielleicht aus Fußballersicht immer noch blöd, und vielleicht wollen wir Schiris das auch nicht, aber es ist nun mal einfach so. Im besten Fall ist es dann immer gleich. Dann ist es transparent, und dann ist es auch in Ordnung. Probleme gibt es, wenn die eine Szene so bewertet wird und die andere Szene so.
Wo haben Sie das Deutschland-Spiel gegen Dänemark gesehen? Sind bei solchen diskutablen Szenen die Blicke von Familie oder Freunden direkt auf Sie gerichtet?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe das Spiel bei meinem Nachbarn gegenüber geschaut. Der hat ein total cooles kleines EM-Studio aufgebaut. Klar, wenn eine strittige Entscheidung kommt und alle jubeln, kann es schon mal sein, dass ich Abseits rufe, weil ich vielleicht schon den Blick dafür habe. Natürlich muss ich dann auch mal Situationen erklären.
Waren Sie auch mal im Stadion bei der EM?
Ich war das Spiel Deutschland gegen Schweiz in Frankfurt im Stadion schauen und muss sagen, dass mir die Schiedsrichter-Leistung überhaupt nicht negativ aufgefallen ist. Als ich nach Hause kam und mit anderen über das Spiel gesprochen habe, meinten alle: „Oh, der Schiri, der war ja so schlecht.“
Diese Meinung fand sich auch in den Medien wieder.
Ich muss jetzt ehrlich sein, es ist mir im Stadion überhaupt nicht so aufgefallen. Auch nicht, dass es da auf dem Platz große Diskussionen deswegen gab. Vielleicht mal, als Maximilian Beier gezogen wurde. Aber ich konnte auf der Tribüne verstehen, dass es ihm auf den ersten Blick zu wenig war.
Sie haben nur die Perspektive aus dem Stadion. Die Zuschauer draußen hatten teils mehrere Wiederholungen und unterschiedliche Perspektiven auf den Fernsehgeräten.
Aber der Schiri hat auch nur eine einzige Wahrnehmung – nämlich seine. So wie ich im Stadion. Ich saß auf dem Oberrang und habe zwar eine ganz spezielle Sicht von oben, aber auch nur aus einer Richtung.
Wie haben Sie das vermeintliche 1:0 für Deutschland gesehen, welches aufgrund eines Foulspiels von Jamal Musiala abgepfiffen wurde. Trainer Julian Nagelsmann führte später an, dass der Schweizer den Ball kontrolliert wegspielen konnte und Musiala versucht, sein Bein zurückzuziehen.
Mag ja alles sein, aber danach rauscht er einfach in ihn rein. Auch wenn er vielleicht noch zurückzieht. Er nimmt den Verteidiger aber komplett raus aus der Szene. Fakt ist, Musiala trifft den Spieler, das darf er nun mal einfach nicht. Das ist ein klares Foul. Genau wie das Blocken von Joshua Kimmich vor dem Schlotterbeck-Treffer im Dänemark-Spiel.
Können Sie das aus Ihrer Sicht noch mal erklären?
Vielleicht kann man in dieser Szene noch ein wenig streiten und sagen: „Gut, er blockt ihn halt.“ Aber er schaut eben nur auf den Gegenspieler und nicht auf den Ball. Seine einzige Aufgabe ist es, den Weg für Schlotterbeck freizublocken. Das funktioniert auch. Zusätzlich macht er das in einer so hohen Intensität, dass der Spieler auch hier komplett aus dem Spiel ist.
Joshua Kimmich würde die Szene vermutlich anders beschreiben...
Man könnte vielleicht auch sagen, der andere war clever und lässt sich fallen, damit er den Freistoß zieht. Aber ich glaube nicht, dass ein Spieler dieses Risiko eingeht. Ob ich umgekehrt für so einen Block einen Elfmeter gepfiffen hätte, weiß ich aber auch nicht.
Das hätte Ihnen umgekehrt nicht genügt?
Ich glaube, da würde mir bisschen was fehlen. Genauso glaube ich auch, dass der Videoschiedsrichter da nicht eingegriffen hätte, wenn der Schiedsrichter das Tor von Schlotterbeck gibt. Weil dann vielleicht auch noch ein bisschen was fehlt, dass es so klar ist.
Wie bewerten Sie insgesamt die Leistungen der Schiedsrichter?
Meiner Meinung kamen bei diesem Turnier die Top-Schiedsrichter Europas zum Einsatz. In Europa haben wir die Topligen der Welt. Diese Schiedsrichter pfeifen in den Top-Wettbewerben und sind somit auch die besten Schiris. Deswegen ist die Qualität bei der Euro auch immer noch etwas höher als bei der WM. Auf anderen Kontinenten leiten deren Schiedsrichter eben keine Wettbewerbe mit solch einer Qualität.
Und dann schießt Jamal Musiala Spaniens Marc Cucurella ab – und ganz Deutschland möchte ein strafbares Handspiel gesehen haben. Was sagen Sie?
Diese Szene zeigt das ganze Dilemma der Handspielregel. Aus Fan-Sicht ist es unstrittig: Der Ball ist an der Hand und hält einen Torschuss auf. Für uns als Unparteiische zählen aber die zu Beginn genannten Aspekte. Ist es Absicht oder nicht? Ist der Arm über dem Kopf oder weit abgespreizt? Versucht der Spieler diese unnatürliche Haltung rückgängig zu machen? Wie ist der Arm an sich? Geht er aktiv zum Ball? Hat er Spannung oder fliegt er locker nach hinten weg? Hat der Spieler überhaupt eine Chance, das Handspiel komplett zu verhindern? Da kommen dann die Kürze der Distanz und die Härte des Schusses dazu.
Eigentlich kann man ihm hier keine Absicht unterstellen. Und wenn der Schiedsrichter das so für sich bewertet auf dem Feld, kann der Videoassistent ihm auch keine anderen Bilder liefern. Andersrum kann man es vielleicht auch anders beurteilen – und dann ist es auch in Ordnung. Diesen Ermessungsspielraum muss man den Schiedsrichtern einfach lassen.
Und der Fakt, dass er einen klaren Ball aufs Tor verhindert?
Die Konsequenz des weiteren Spielverlaufs ist kein Kriterium in der Bewertung eines Handspiels – außer, wenn man einen Vorteil geben kann. Das war auch Diskussionspunkt bei Julian Nagelsmann. Er meinte, dass die Flanke im Dänemark-Spiel zum Beispiel nicht angekommen wäre. Das kann ich nicht nachvollziehen, denn das ist einfach kein Kriterium. Man kann auch ohnehin nicht voraussagen, was als nächstes passiert.
Weltmeister Shkodran Mustafi, Experte bei Magenta, meinte hinterher, dass es doch auch Foul wäre, wenn ein Verteidiger bei einer Grätsche zurückzieht und trotzdem den Gegner trifft.
Ja, aber er entscheidet sich doch dann aktiv dazu, in den Zweikampf zu gehen. Er nimmt bewusst dieses Risiko in Kauf. Der spanische Spieler dagegen macht doch in dieser Szene erst einmal nichts Verbotenes. Die Aktion ist in diesem Falle ja auch der Schuss – und nicht das Armwegziehen. Der Schiedsrichter hat diese Szene so für sich entschieden und ich kann sie nachvollziehen. Auch wenn ich mir als Deutschland-Fan natürlich einen anderen Spielausgang gewünscht hätte. Am Schiedsrichter lag es an diesem Tag aber nicht.
Das Gespräch führte Moritz Hannappel