Paris
"Packing" als neuer Taktiktrend: Für Ex-Profi Reinartz zählen nur gute Pässe

Früher saß er als Fußballer auch mal zum Jubeln auf dem Zaun, heute versucht er sich als Analytiker: Ex-Profi Stefan Reinartz (rechts).

dpa

Paris. Stefan Reinartz war während seiner Zeit als Fußball-Nationalspieler kein allzu gefragter Gesprächspartner für die Fernsehsender. Warum hätte das auch so sein sollen? Der 27-Jährige war nur ganz kurz ein Teil des DFB-Teams.

Von unserem Reporter Christoph Erbelding

Drei Länderspiele absolvierte der Abwehrmann, doch selbst Mitglieder im „Fan Club Nationalmannschaft“ dürften sich daran kaum noch erinnern. Reinartz hat beim DFB nie im Rampenlicht gestanden. Trotzdem macht er derzeit bei der EM Karriere. Was allerdings weniger mit seinen fußballerischen Fähigkeiten zu tun hat, sondern mit einem Programm zur Analyse von Spielen. Das nennt sich „Packing“. Stefan Reinartz hat es mitentwickelt – und ist damit in der ARD in aller Munde.

Was aber ist „Packing“? Warum schießen dem TV-Experten Mehmet Scholl fast schon die Tränen des Analyseglücks in die Augen, wenn er daran denkt? Und warum nutzt es die ARD mittlerweile bei vielen EM-Spielen? Nach dem 2:0 der Deutschen gegen die Ukraine hatte Reinartz seinen großen Auftritt: Er sollte genau das erklären.

Als Moderator Matthias Opdenhövel den Mann ankündigte, der 163 Bundesligaspiele absolvierte, ehe er seine Karriere vor wenigen Wochen überraschend beendete, war die Verwunderung erst einmal groß. Warum gerade Reinartz? Und als der frühere Leverkusener und Frankfurter zu sprechen begann, löste sich die Konfusion zunächst nicht in Wohlgefallen auf. Flankiert von Opdenhövel und Scholl, sprach Reinartz von Pässen und überspielten Gegenspielern. Er erläuterte, dass Gegenspieler durch starke Pässe aus dem Spiel genommen, überwunden, ausgespielt also „weggepackt“ werden. Er betonte, dass es diesen Ansatz der Analyse vorher nicht gegeben hat, und verkündete nicht ohne Stolz, dass sein Programm messbar macht, was vorher nicht messbar gewesen ist. Ob sich ein Spieler erfolgreich am Spielaufbau beteiligt oder doch eher zurückgehalten hat, soll erkennbar werden – dank „Packing“. Toni Kroos hatte im Spiel gegen die Ukraine außerordentlich gute Werte, nannte Reinartz ein Beispiel am Puls der Zeit.

Seinen Beitrag zur Fußballwissenschaft teilte Reinartz in neun langen Minuten einem TV-Millionenpublikum mit, von dem er nicht wissen konnte, ob sich darunter mehrheitlich Experten oder doch eher Taktiklaien befanden. Auszugehen ist von letzterem Fall. Selbst passionierte Fans, die sich auch dann Fußballspiele anschauen, wenn nicht gerade die Nationalmannschaft auf dem Platz steht, sahen sich schon mit einer Hand am Aspirinschrank nach der komplizierten Kost, die ihnen zu später Stunde aufgetischt wurde. Und es wären mehr Fragen als Antworten offen geblieben, hätten Opdenhövel, Scholl und Reinartz nicht ein paar Bilder aus dem Deutschland-Spiel parat gehabt, um Reinartz' Ausführungen zu untermauern.

Plötzlich wurde alles klarer: Ein Akteur X spielt einen Pass. Der Ball fliegt an sechs Gegnern vorbei. Kollege Y nimmt den Ball auf. Ende der Aktion. Macht sechs „weggepackte“, überspielte Spieler in der Statistik von Akteur X.

Dank einer Hintertorkamera werden die Vorgänge verständlich aufgezeigt. Es soll sich zurückverfolgen lassen, dass ein Team mit besserem „Packing“-Wert Vorteile hatte und in der Regel gewinnt. So wie Deutschland gegen die Ukraine – mit 391:162 überspielten Gegnern, 52:19 überspielten Verteidigern und 2:0 Toren.

Mehmet Scholl zeigt sich davon begeistert: „Packing bestätigt Gefühle, die ich bislang nicht statistisch erklären konnte.“ Gefühle, die indes nur noch wenig wert gewesen wären, hätte die Ukraine im ersten Durchgang ihre Chancen nach Eckbällen genutzt. Wie dem auch sei: Reinartz hat das Programm natürlich nicht allein entwickelt, sondern mit einem Team von klugen Menschen einer Firma aus Köln. Er aber hatte die Idee, gemeinsam mit Jens Hegeler von Hertha BSC. Und vielleicht ist es die erfreuliche Erkenntnis für Reinartz, dass er auf diese Weise doch noch zur EM gefahren ist.

Top-News aus der Region