Alfred Gottschalk (hintere Reihe, 6. von rechts) in der Grundschule Oberwesel. Wenige Jahre später wurde er rausgeworfen.
Von unserem Redakteur Dirk Eberz
Oktober 1936: Halb Oberwesel ist auf den Beinen. Wie ein Lauffeuer hat sich herumgesprochen, dass Adolf Hitler persönlich in die Stadt kommt. Im offenen Wagen wird er gegen Mittag von den Einwohnern begrüßt. Hitler schüttelt Hände, hält kurz an, steigt aber nicht aus seinem Fahrzeug aus. So überfallartig wie er gekommen ist, ist er schließlich auch wieder verschwunden – wie ein Spuk.
Auch Alfred Gottschalk will unbedingt den Diktator sehen, den alle den „Führer“ nennen. Dass ihm seine Eltern verboten haben, auf die Straße zu gehen, ist dem 6-jährigen Knirps egal. Er büchst aus seinem Zimmer aus, um sich in die jubelnde Masse einzureihen. „Ich war einfach neugierig“, erinnert sich der heute 75-Jährige. Alfred kann zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass dieser Mann unvorstellbares Leid über seine Familie bringen wird.
Alfred Gottschalk ist Jude. „Meine Eltern wollten mich wohl schützen“, sagt er. „Deshalb wurde nicht über Politik gesprochen.“ Dennoch verfolgt er das Spektakel mit einer Mischung aus Faszination und Schaudern.
Das letzte Foto vor der Flucht 1939: Alfred Gottschalk (Mitte) mit Großvater Gustav Gerson (rechts) und Mutter Erna Gottschalk (hinten links) im Garten ihres Wohnhauses in Oberwesel.
Dass er als Jude Außenseiter ist, erfährt er Jahr für Jahr am Wernertag. In der Schule wird er dann regelmäßig verprügelt. Grün und blau am ganzen Körper rennt er verstört nach Hause. Warum er verhauen wird, versteht er nicht. „Wer ist dieser Werner?“, fragt er seine Eltern. Ebenso wenig kann er später begreifen, warum ein SA-Mann in den Unterricht platzt und brüllt: „Alle Juden raus!“ Alfred und seine jüdische Mitschülerin Ruth Lichtenstein müssen die Schule verlassen.
Dieser Tag hat sich tief in Alfred Gottschalks Gedächtnis eingegraben und Wunden hinterlassen, die bis heute nicht verheilt sind. Alfred wird nun von allen Kindern gemieden. Niemand spielt mehr mit dem 7-Jährigen. „Die Eltern der Mitschüler hatten es verboten, wie ich später erfuhr“, sagt Alfred Gottschalk.
Alfreds Vater weiß längst, was die Stunde geschlagen hat. Max Gottschalk ist Händler. Seit Jahren versuchen die Nazis schon, ihn und seinen Schwiegervater Gustav Gerson mit allen erdenkbaren Schikanen aus dem Geschäft zu drängen. 1935 ist in dem antisemitischen Hetzblatt „Der Stürmer“ ein diffamierender Artikel erschienen, in dem Gerson als Betrüger verleumdet wird. Dass die Ausgabe öffentlich in Oberwesel aushängt wird, kommt einem Rufmord gleich.
Max Gottschalk mit einer Verwandten am Rotterdamer Hafen vor seiner Emigration 1938. Er starb mit 47 Jahren an Leukämie.
Es gibt aber auch Menschen, die Zivilcourage beweisen und ein hohes persönliches Risiko eingehen. Im März 1938 wird die Polizei in Oberwesel angewiesen, Gottschalk streng zu überwachen und Verfehlungen umgehend anzuzeigen. Die Heimatforscherin Doris Spormann aus Biebernheim besitzt eine Kopie des Dokuments. Nur einen Monat später vermerkt der Beamte auf der Akte: „Gottschalk ist inzwischen nach Holland abgewandert“. Er hat Max Gottschalk einen Tipp gegeben, wie dessen Sohn bestätigt. Im Oktober geht Max Gottschalk in Rotterdam an Bord eines Schiffes und emigriert in die USA. Die Familie soll später nachkommen.
Nachbarn versorgen sie unterdessen heimlich mit Essen. Katholische Nonnen unterrichten Alfred, nachdem er aus der Schule geworfen worden ist. Bis sich die Lage schließlich in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 dramatisch zuspitzt. Braune Horden demolieren die Inneneinrichtung der Synagoge am Schaarplatz.
Synagoge mit Teer beschmiert
Dass das Gotteshaus nicht zum Raub der Flammen wird, liegt einzig daran, dass es an zwei Wohnhäuser grenzt, die ebenfalls abgebrannt wären. „Die Synagoge wurde mit Teer beschmiert“, erinnert sich Gottschalk. Er wird auch Zeuge, wie die heiligen Thora-Rollen in den Oberbach geworfen werden. Verzweifelt versucht sein Großvater, die Papierfetzen wieder aus dem Wasser zu fischen.
Nicht alle Männer, die hier wüten, sind Fremde. Viele kennt Alfred Gottschalk – ein Trauma, das bis heute nachwirkt. Scheiben werden zertrümmert, Juden durch die Stadt getrieben. Das Haus seiner Großeltern bleibt wie durch ein Wunder verschont – dank der Autorität der 1937 verstorbenen Großmutter, wie Alfred Gottschalk vermutet. Henriette Gerson war eine der ersten Frauen im Oberweseler Stadtrat.
„Sühneleistung“
Dennoch ist die einst angesehene Händler-Familie ruiniert: Nach der Reichspogromnacht erlegt das Nazi-Regime den Juden eine „Sühneleistung“ auf – ein beispielloser Zynismus. Auch Alfreds Großeltern, in deren Haus er lebt, müssen die „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von 20 Prozent ihres Vermögens leisten.
„Ich brachte unser Tafelsilber zur Polizei“, erinnert sich Gottschalk. Großvater Gustav muss sein Haus für einen Spottpreis verkaufen. „Kaum war das Geld auf der Bank, wurde es beschlagnahmt“, erzählt Gottschalk. 1952, als er zum ersten Mal nach dem Krieg nach Oberwesel zurückkehrt, werden ihm die neuen Besitzer des Hauses die Tür vor der Nase zuschlagen.
Alfred Gottschalk und seine Mutter Erna kommen mit dem Leben davon. Im Sommer 1939 folgen sie dem Vater in die Vereinigten Staaten. Großvater Gustav Gerson bleibt alleine zurück. Der alte Mann hat alles verloren: seine Familie, seinen Besitz, sein Ansehen. 1940 bricht er nach einem Herzinfarkt auf dem Bahnhof in Oberwesel tot zusammen.
Rhein-Zeitung, 15. Februar 2006