Frau Klöckner, am vergangenen Donnerstag haben Sie sich wie viele CDU-Politiker bei der Aktion „Steh auf!“ klar gegen Antisemitismus bekannt. „Wenn Hass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden verbreitet werden, dann ist Schweigen keine Option.“ Wie sehr schadet es der Sache, wenn Politiker bei der Frage nach dem Selbstverteidigungsrecht Israels herumlavieren und stattdessen eine Deeskalation auf beiden Seiten fordern?
Julia Klöckner: Ich kann Ihnen sagen, für uns als Christdemokraten hat es keine Sprachlosigkeit gegeben. Wir haben eine klare Haltung: Israel hat ein Existenzrecht. Israel hat ein Verteidigungsrecht. Natürlich darf die Politik Israels kritisiert werden. Aber wir können nicht dulden, dass das mit Aufrufen zur Zerstörung Israels und mit Judenhass einhergeht. Dahinter steckt Antisemitismus. Das muss man klar benennen. Und dann gehe ich noch einen Schritt weiter: Den Nahostkonflikt in Deutschland auszutragen, die Fahne des Staates Israel zu verbrennen, gegen Juden zu hetzen, ihnen den Tod zu wünschen und jüdische Einrichtungen zu bedrohen, das muss strafrechtliche Konsequenzen haben. Jeder aus der Bundesregierung sollte sich so klar positionieren, wie sich die Kanzlerin im Jahr 2008 in der Knesset, symbolträchtiger könnte es nicht sein, positioniert hat. Die Existenz Israels ist deutsche Staatsräson. Und noch einmal: Natürlich ist Kritik an Israels Politik nicht nur erlaubt, sondern demokratisch erforderlich, wenn nötig. Aber nicht als Deckmantel, um Israel und das Judentum zu zerstören. Das sind Terroristen, die das vorhaben, es sind Antisemiten. Über manche relativierende Einlassungen der Kolleginnen und Kollegen von Grünen und SPD bin ich dann doch verwundert.
Herr Mansour, ist es eine theoretische Debatte, wann sich wer wie klar geäußert hat, oder steht das in Verbindung mit antisemitischen Ausschreitungen auf Deutschlands Straßen? Befeuern solche Statements Judenhass? Legitimieren sie ihn?
Ahmad Mansour: Entschiedenheit, klare Sprache und deutliche Kommunikation sind enorm wichtig, damit die Leute wissen, was sie zu erwarten haben und warum das Thema so wichtig ist. Wenn ich schaue, was ich bei meiner Arbeit in Schulen oder Asylunterkünften erlebe, muss ich feststellen, dass viele Menschen eigentlich nicht verstanden haben, warum Deutschland an der Seite Israels steht. Wenn Politik hier nicht klar spricht und handelt, dann ist das alles andere als hilfreich. Wenn Politiker von Grünen und der SPD beide Seiten zur Deeskalation aufrufen, ist das naiv. Israel, und das ist eine Tatsache, hat nicht die Schweiz, Österreich und Deutschland als Nachbarn, sondern Libanon, Syrien, praktisch auch den Iran, die Hamas und die Hisbollah als Nachbarn. Die lassen keine Gelegenheit ungenutzt, in aller Klarheit zu sagen, dass es ihnen um die Vernichtung dieses Staates geht. Und sie handeln auch so. Deshalb dürfen wir nicht jedes Mal nach rationalen Gründen für Raketen auf Israel suchen. Es gibt keine guten Gründe für Raketen.
Sie sagen: Räumungen in Ostjerusalem sind weniger Anlass als Vorwand. Die Hamas schießt Raketen, weil Juden sterben sollen.
Mansour: Absolut. Das ist bei vielen Europäern nicht angekommen, dass wir faktisch über einen asymmetrischen Krieg sprechen. Dabei nutzt die Hamas die militärische Stärke Israels aus. Die Raketen fliegen nicht von Militärstützpunkten, sondern aus Wohngebieten im dicht besiedelten Gaza. Das dürfen europäische Politiker nicht schwarz-weiß färben. Sie sprechen über das Thema, ohne Lösungen anzubieten, wie ein legitimer Staat unter diesen Bedingungen eine Terrororganisation angemessen bekämpfen soll.
Frau Klöckner, Herr Mansour hat angedeutet, dass es hinsichtlich des Nahostkonflikts grundlegende Verständnisprobleme gibt. Das hängt auch mit der Schule zusammen. In Rheinland-Pfalz kann ein Sozialkundelehrer durchs Studium kommen, ohne sich jemals mit dem Thema zu beschäftigen. Wie soll er es danach Schülern vermitteln?
Klöckner: Sie können einen Abschluss mit 1,0 machen, ohne sich vertieft im Studium oder im Unterricht damit beschäftigen zu müssen. Und die Zeiten ändern sich. Als ich in der Schule war, ist mir Antisemitismus auf dem Schulhof nicht begegnet. Heute sieht es anders aus, wie mir Lehrer wie Schüler berichten, und natürlich muss sich die Lehrerausbildung an die Realität und die politischen Debatten anpassen. Und für Lehrer, die bereits an der Schule sind, sind Weiterbildungen, Aktualisierungen sicher sinnvoll, auch für Nichtfachlehrer. Den Nahostkonflikt zu thematisieren, ist nicht banal, aber absolut wichtig – auch nach 2015, als viele Menschen mit einem völlig anderen Hintergrund in unser Land kamen. Es wäre doch fatal zu glauben, dass damit völlige Harmonie entstanden ist. In Deutschland herrscht eine andere politische Struktur und ein anderes gesellschaftliches Bild als das, was viele Menschen in ihren Herkunftsländern gewohnt waren. Nicht nur mit Blick auf die Rechte der Frauen, sondern auch den Umgang mit Israel oder Andersgläubigen. Das gilt natürlich nicht für alle, aber wer diese Herausforderungen leugnet, will die Realität des Alltags nicht wahrhaben. Unser deutsches Verhältnis zu Israel und dem Judentum ist nicht ein Angebot zur Güte, sondern gehört auch – so spießig es vielleicht klingen mag – zu unserer Hausordnung, wenn man hier lebt.
Aktuell meiden Lehrer das Thema, gerade in Brennpunkten, allerdings aktiv. Aus Angst vor Konflikten. Was ist der richtige Ansatz?
Mansour: Erst einmal brauchen wir eine andere Debattenkultur. Dabei sind Lehrer, aber letztlich auch Medien gefragt. Wie oft bekomme ich in den letzten Tagen Rückmeldungen, dass ich Beifall von der falschen Seite bekomme, wenn ich über Antisemitismus unter Muslimen spreche? Diese Art und Weise, Debatten zu führen, ist absurd. Das bringt uns nicht weiter. Zweitens mache ich auch Lehrern Vorwürfe. Ja, viele sind einfach nicht gut ausgebildet, um das Thema überhaupt bearbeiten zu können. In der Ausbildung von Lehrern müssen pädagogische Werkzeuge geübt werden, vermittelt werden, um den Nahostkonflikt überhaupt in einer Klasse differenziert und sachlich zu bearbeiten. Dazu muss auch genug Zeit in den Lehrplänen vorgesehen sein. Wenn ich aber höre, dass der Ruf der Schule mehr Prioritäten genießt als der Schutz der Opfer, hat das nichts mit Ausbildung zu tun. Es gab Fälle, in denen das Opfer, also der jüdische Schüler, der gemobbt wurde, der antisemitisch angegangen wurde, die Schule verlassen musste, und die Täter blieben da. Das sind Zustände, die ich nicht akzeptiere.
Im vergangenen Jahr hat die Rhein-Zeitung über antisemitische Pöbeleien am Mainzer Gutenberg-Gymnasium berichtet. Es war eine Zufallsentdeckung. Ein Rapper, Ben Salomo, war zu Gast und wurde von einer Schülerin aufs Übelste beleidigt. Im Bildungsministerium hatte man allerdings keinen Überblick, wie oft solche Dinge in Rheinland-Pfalz passieren. Muss sich etwas ändern?
Klöckner: Definitiv. Wir brauchen eine Meldepflicht für antisemitische Vorfälle in Schulen – auch in unserem Bundesland. In Bayern beispielsweise existiert so etwas. Ministerpräsidentin Dreyer redet ja gern von Zusammenhalt. Wenn es aber wirklich darauf ankommt, dass sie Strukturen schaffen muss, damit Zusammenhalt auch wirklich gelebt werden kann, wird es dünn.
Kommen wir, Herr Mansour, zurück zum Unterricht an sich. Wann ist der richtige Zeitpunkt, über den Nahostkonflikt zu sprechen? Zehnte Klasse?
Mansour: Das ist Realität und zu spät. Vor allem, weil auch nicht alle die zehnte Klasse erreichen. Ich würde auch in der Grundschule vermitteln. Es geht auch nicht nur um den Nahostkonflikt. Es geht um die Art und Weise, wie wir Debattenkultur vermitteln. Wie man sich mit Argumenten austauscht. Darüber hinaus will ich das Thema Antisemitismus nicht nur aus einer deutschen Perspektive bearbeiten. Ich möchte Menschen, die hier geboren, aufgewachsen oder dazugekommen sind, vermitteln, dass sie natürlich keine Schuld trifft, was in der Vergangenheit in Deutschland passierte. Aber sie haben eine Verantwortung für die Zukunft, und wenn sie Teil dieser Gesellschaft sein wollen, dann müssen sie das mittragen.
Geschieht das nicht oder zu wenig?
Mansour: Meiner Erfahrung nach ist es so: Wenn es irgendwelche Konflikte gibt, dann gibt's einen Projekttag, und dann kommt ein Projekt von außerhalb und sagt, ‚Juden und Muslime essen kein Schweinefleisch‘. Und damit ist das Problem aus der Welt geschafft. Das ist nicht der Fall. Da muss mehr und vor allem intensiver über das Thema gesprochen werden. Und wie gesagt nicht nur, wenn es brennt, nicht nur, wenn es eskaliert, sondern gerade wenn es ein bisschen ruhiger ist.
Frau Klöckner, Sie haben gerade über Flüchtlinge gesprochen. Ihr Parteifreund Jens Spahn sprach kürzlich von „importiertem Antisemitismus“. Allerdings gibt es dieses Problem auch in Teilen der türkisch-stämmigen Gemeinschaft in Deutschland. Selbst bei Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind.
Klöckner: Antisemitismus ist herkunftsübergreifend. Es ist die Indoktrination, dass es Menschen, Glaubensgruppen gibt, die weniger wert sind, die zerstört werden müssen. Das gibt es überall. Leider und erschreckend. Ich glaube, über deutschen Antisemitismus sind wir uns bewusst und dürfen auch nicht nachlassen oder relativieren. In rechtsextremen Kreisen ist er immer noch sehr präsent. Aber es muss doch möglich sein, ein aktuelles Problem zu erwähnen, ohne reflexhaft angegriffen zu werden. Wenn ich über Linksextremismus spreche, ruft jemand: „Aber die Rechten!“ Ja, und umgekehrt. Aber lasst uns ohne Schaum vorm Mund die Probleme ansprechen und lösen und nicht aufrechnen.
Stopp! Stichwort Debattenkultur: Sie tun genau das Gleiche. Wenn Sie über Rechtsextremismus sprechen, erwähnen Sie immer sofort Linksextremismus ...
Klöckner: Ja, das mag schon mal stimmen. Jeder Extremist ist für unsere gesellschaftliche Ordnung hochproblematisch und hochgefährlich. Und im Gegenteil: Jede Art von Extremismus, rechts oder links, beflügelt sogar den gegenüberliegenden Extremismus inklusive deren Fundamentalisten. Aber zurück zur Frage: Der Begriff des importierten oder zugewanderten Antisemitismus ist der Versuch einer Unterscheidung zum in Deutschland bekannten Antisemitismus. Aufgrund unserer Geschichte haben wir eine andere Perspektive auf dieses Thema. Wenn wir aber Menschen aus anderen Kulturen ansprechen wollen, müssen wir auch ihre Herkunft und ihren Hintergrund ernst nehmen. Wir dürfen nicht aus Angst vor Shitstorms ein solches Thema unter den Tisch kehren. Letztlich ist ja nicht entscheidend, wer der Absender ist, sondern die hasserfüllte Botschaft. Die Ursachen muss man aber spezifisch angehen.
Doch wo findet bei Menschen, die in Deutschland sozialisiert sind, diese Radikalisierung statt?
Mansour: Zunächst einmal trifft es natürlich nicht auf alle Menschen mit Migrationshintergrund zu. Ich kenne sehr viele Personen, die mir schreiben, dass sie sich für das, was in den vergangenen Wochen passiert ist, schämen. Interessant ist dabei, dass die Gruppierungen, die auf die Straße gehen, sich meistens sogar in Feindschaft gegenüberstehen. Wir haben Schiiten, Sunniten, säkulare Menschen, Islamisten und andere. Dieses Mal haben wir im Vergleich zu 2014 – und das ist meine Beobachtung – viel mehr aggressive Flüchtlinge unter den Demonstranten gesehen. Deshalb müssen wir jetzt auch über importierten Antisemitismus sprechen.
Und der andere Teil?
Mansour: Das sind wirklich Menschen, die hier aufgewachsen sind, aber trotzdem anders sozialisiert wurden. Ich beobachte sie in sozialen Netzwerken, die mittlerweile Teil des Problems geworden sind. Wir haben diese Menschengruppe letztlich nicht erreicht. Sie haben Abitur gemacht, sie studieren und trotzdem leben viele, was Einstellungen und Werte angeht, in einer Parallelwelt. Wenn ich Palästinenser anschaue: Der Flüchtlingsstatus ist Teil ihrer Erziehung. Damit einher geht dieser undifferenzierte Hass auf Israel. Dazu bewegen sie sich in Vereinen, in Moscheen, wo das immer wieder verstärkt wird. Bei türkischstämmigen Menschen spielen auch Moscheen und soziale Netzwerken eine Rolle. Dort sehen sie die Propaganda von Erdogan, der eine antisemitische Wortwahl in die Welt gesetzt hat. Das bleibt auch in Deutschland nicht ohne Folgen.
Die Fragen stellte Carsten Zillmann