Die Apokalypse: 15 Jahre 9/11

Ein Feuerwehrmann steht in den Trümmern des World Trade Centers. Die Sicherheitspolitik hat sich seit 9/11 grundlegend gewandelt. Foto: dpa
Ein Feuerwehrmann steht in den Trümmern des World Trade Centers. Die Sicherheitspolitik hat sich seit 9/11 grundlegend gewandelt. Foto: dpa

Der Dienstagmorgen, 11. September 2001, ist warm und sonnig. In den Fluren des Bundestages in Berlin geht es um die Frage, ob sich Verteidigungsminister Rudolf Scharping nach seinen inszenierten Planschbildern mit der Geliebten Kristina Pilati noch halten kann. Ein vermeintliches Flugunglück in New York vermag die Gedanken am frühen Nachmittag zunächst kaum zu berühren. Ist da ein Sportflieger ins World Trade Center gestürzt? Die Fernsehsender melden es kurz, dann sendet die ARD ihre Tierdoku, Sat.1 seine Gerichtsshow.

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Doch als um 15.03 Uhr, keine 20 Minuten nach dem ersten Einschlag in den Nordturm, auch der Südturm von einem Flugzeug getroffen wird, sind weltweit Millionen Menschen bereits live dabei. Im Kanzleramt und in den Ministerbüros erstirbt die Kommunikation, alle schalten die Fernseher ein und sehen nun, dass schon der erste Einschlag verheerend gewesen ist. Nun schießt ein riesiger Feuerball durch den Wolkenkratzer. Das ist Terror in einer ungeahnten Dimension. Große Passagierjets mit unschuldigen Menschen als Bomben. Ein Angriff auf die freie Welt. Wie viele Jets sind noch entführt, wer wird noch getroffen?

Die Wahrnehmung der folgenden Stunden wird beherrscht von traumatisierenden Bildern. Die Menschen, die auf der verzweifelten Flucht vor dem Feuer in den Tod springen, die einstürzenden Giganten, das brennende Pentagon, die Passanten, die von Asche bedeckt um ihr Leben rennen. Schließlich das Symbolbild beim Einbruch der Nacht: die Fassadengerippe im Dunst auf dem Berg von Schutt und Tod.

Die Welt ist eine andere geworden

Es gibt Tausende zu Herzen gehender Erlebnisse in dieser Nacht, es gibt die heroischen Taten der Rettungskräfte, das verzweifelte Eingreifen der Passagiere, die die Entführer im vierten Flugzeug überwältigen, aber den Absturz nicht mehr verhindern. Und es gibt in dieser Nacht die Ahnung, dass am nächsten Morgen zwar die Sonne wieder aufgehen, die Welt aber nicht mehr dieselbe sein wird. Die Supermacht ist in ihrem Mark getroffen. Attacken, Zerstörung, Krieg, das war seit Jahrzehnten immer weit weg. Nun fühlen sich die Amerikaner angegriffen, und sie erklären dem Terror den Krieg.

Deutschland ist dabei. „Heute sind wir alle Amerikaner“, sagt SPD-Fraktionschef Peter Struck am Tag der Anschläge im Bundestag. Und Bundeskanzler Gerhard Schröder verspricht dem Verbündeten die „uneingeschränkte Solidarität“. Erstmals in ihrer Geschichte stellt die Nato den Bündnisfall fest, der dann alle Staaten zum Beistand verpflichtet, wenn ein Mitglied angegriffen wird. Deutschland ist tiefer involviert als zunächst vermutet. Bei der Aufklärung der Terroranschläge kommt heraus, dass die zentrale Terrorzelle unbehelligt in Hamburg lebte.

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9/11, der 11. September, wird zur Chiffre, zumal die Ziffernfolge 911 in den USA für den Notruf steht. Ein Analyst des Bundesnachrichtendienstes, der sich selbst als „Septembrist“ empfindet, weil er im September 2001 in die transnationale Terroraufklärung versetzt wird, kann auch nach 15 Jahren noch nicht fassen, dass der Terrorplan aufging, obwohl er so lange vorbereitet wurde und es so viele Mitwisser gab. Und er fragt sich: „Was hätte ich gemacht, wenn eine Quelle mir im August 2001 gesagt hätte, dass eine Gruppe von 20 Personen gleichzeitig vier Flugzeuge in den USA entführen wollte, um sich mit diesen auf die beiden Türme des World Trade Centers, das Pentagon und das Kapitol zu stürzen?“ Fragen, die heute das Denken der Geheimdienste bestimmen: Wissen wir genug? Bekommen wir dieses Mal alles rechtzeitig mit?

Das allein schon hat die Welt verändert. Der Ausbau der US-Geheimdienste zu einer Datenkrake, die sich mit ihren Tentakeln auf jede Kommunikation zu legen versucht, die in vielen westlichen Ländern mehrfach verschärften Sicherheitsgesetze, die von einem Grundmisstrauen geprägt sind, sich wie Blei auf unbeschwertes gesellschaftliches Leben legen. Auch die Wirtschaft ist schwer getroffen. Die Institute berechnen dreistellige Milliardenverluste, vor allem in der Flugbranche, Hunderttausende verlieren ihren Job.

Und doch gibt es die Analysten, die meinen, nach dem Platzen der Dotcom-Blase und vor der Finanzkrise, habe 9/11 die Talfahrt nur beschleunigt, die ohnehin gekommen wäre. Der Historiker Herfried Münkler sieht sogar politisch „keine Zäsur“, da sowohl Arabischer Frühling und Flüchtlingsdynamik auch ohne die Anschläge gekommen wären. Fast 3000 Menschen sterben an jenem 11. September in den USA. Es ist nur ein Bruchteil jener Todeszahlen, die auch die Amerikaner in den nachfolgenden Kriegen zu verzeichnen haben, erst recht mit Blick auf die horrenden Opferzahlen der Zivilbevölkerung in Afghanistan, im Irak.

Der erste Krieg beginnt schon vier Wochen nach 9/11, führt zum Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan und auch 15 Jahre später noch nicht zu einer dauerhaften Befriedung der Region. Osama bin Laden, der 9/11-Drahtzieher, kann erst 2011 in seinem pakistanischen Versteck entdeckt und von einem US-Kommando getötet werden. Die Terrornetzwerke sind stärker als unmittelbar nach ihrem Sturz. Der Irakkrieg anderthalb Jahre später spaltet die Allianz. Auch Deutschland ist „nicht überzeugt“.

Der Krieg gegen den Terror macht den Terror stärker, weil die USA ihn vor allem militärisch verstehen. Zuschlagen, niederringen, abziehen, dann kommt die stabile Demokratie schon von selbst. Diese naive Strategie lässt instabile Regionen entstehen, in denen sich neue Terrorbewegungen breitmachen. Ohne den Irakkrieg und den syrischen Bürgerkrieg gäbe es heute keine Terrormiliz IS, die weltweit Zulauf hat und die Terrorangst globalisiert.

Nach 15 Jahren zieht die deutsche Politik höchst unterschiedliche Schlussfolgerungen aus der Entwicklung seit 9/11. In den USA sei nun schon eine ganze Generation mit dem „Krieg gegen den Terror“ aufgewachsen, bedauert SPD-Außenexperte Niels Annen. Die Obama-Administration habe erkannt, dass Terror letztlich nicht mit militärischen Mitteln zu besiegen sei. Die SPD hoffe, „dass das nach den Wahlen im Weißen Haus auch noch so gesehen wird“.

Gibt es einen Krieg gegen Terror?

Aus Sicht der Linken wurde „auf mörderische Weise klar, dass der Traum vom ,Ende der Geschichte’ nach dem Kalten Krieg ausgeträumt“ war, dass militärische und wirtschaftliche Stärke der Sieger im Ost-West-Konflikt keinerlei Garantien biete. Multilaterale Strukturen seien das Gebot der Stunde, sagt Linken-Außenexperte Stefan Liebich. Für die Grünen ist klar, „dass der Krieg gegen den Terror endlich beendet werden muss“. Zwar müsse der Terror zurückgedrängt werden, wo er Territorien besetze. Doch mahnt Grünen-Außenexperte Omid Nouripour: „Jeder Verrat an den Menschenrechten, der im Namen des Krieges gegen den Terror begangen wird, wirkt als Brandbeschleuniger und führt zu neuen Rekrutierungen für den Terrorismus.“

Der Unions-Außenpolitiker Jürgen Hardt sieht zwar „eine starke Allianz freier Völker erfolgreich“ im Kampf gegen den Terror. Doch seine Einschränkungen sind umfassend. Noch seien nicht alle Hintermänner dingfest, noch gebe es zu schwache Staaten, noch sei die Hetze im Internet nicht im Griff, noch lebten zu viele Menschen in Verhältnissen, die sie anfällig für Terroristen machten. Da ist viel dran. Nach mittlerweile 15 Jahren steht die Welt immer noch am Anfang ihres Versuches, den 11. September 2001 zu bewältigen.