Zehn dieser „Cold Cases“ gibt es allein in seiner Behörde. Landesweit sind es mehr als 100. Zum Auftakt unserer Serie erklärt der Ermittler im Interview mit unserer Zeitung, warum er einen überführten Täter 21 Jahre nach einem Verbrechen trotzdem laufen lassen musste und was die Ermittlungen bei den Cold Cases so schwierig macht.
Sie arbeiten seit Jahrzehnten in der Mordkommission. Was war Ihr spektakulärster Cold Case, den Sie lösen konnten?
Da fällt mir spontan der Fall Lolita Brieger ein. Ein junges Mädchen, das Anfang der 1980er-Jahre ermordet worden ist. Die entscheidende Spur kam nach einer ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“. Ihre Leiche haben wir auf einer alten Mülldeponie gefunden, auf der sie vergraben worden war. Die zugeschüttete Deponie überhaupt wieder zu öffnen, war dabei gar nicht so einfach. Mittlerweile stand da ein kleiner Wald. Wir hatten also mit vielen Problemen zu kämpfen: Sie haben eine Gemeinde, der das Gebiet gehört. Sie haben ein Forstamt, das für den Wald, und eine Kreisverwaltung, die für den Müll zuständig ist. Und dann liegt die alte Deponie auch noch 20 Meter hinter der Landesgrenze auf nordrhein-westfälischem Gebiet.
Wie läuft so eine Grabung ab?
Dazu musste zunächst mal der Wald gerodet werden. Und wir haben Probebohrungen gemacht. Danach haben wir an einer Stelle gegraben, die uns als der Ort beschrieben worden ist, an dem die Leiche abgelegt worden sein soll. Aber wir haben sie nicht gefunden. Also haben wir am Ende die gesamte Mülldeponie ausgehoben. Und was wirklich spektakulär war: In der letzten Baggerschaufel haben wir die Knochen gefunden.
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Dann hatten Sie eine Leiche und einen Täter. Trotzdem mussten Sie den Mann wieder laufen lassen. Wie kann das sein?
Es gab ein juristisches Problem. Wir hatten einen Täter und ein Tötungsdelikt. Das sah wohl auch das Gericht so. Aber wir konnten anhand von Kleidung und Knochen keinen Mord nachweisen. Das Verfahren wegen Totschlag ist am Ende eingestellt worden, weil Totschlag nach 20 Jahren verjährt. Und wir waren einige Jahre zu spät.
Wie frustrierend ist es für einen Polizisten, einen mutmaßlichen Mörder laufen lassen zu müssen?
Die juristische Ausgangslage ist uns ja bekannt. Damit können wir umgehen. Wichtiger war es uns, dass der Fall endlich geklärt werden konnte und auch die Familie endlich Gewissheit hatte.
Wann spricht die Kriminalpolizei eigentlich von einem Cold Case?
Es gibt keine klare Definition, ab wann ein ungelöster Fall zum Cold Case wird. Grundsätzlich reden wir dabei aber von einem Kapitaldelikt, das über mehrere Jahre ungeklärt ist. Das kann ein Mord sein, aber auch eine schwere Vergewaltigung oder ein Banküberfall. Ob das jetzt fünf oder zehn Jahre sind, ist nicht entscheidend.
Bleiben wir mal bei den Mordfällen. Wie viele ungeklärte Fälle gibt es in der Mordkommission Trier? Und wie viele sind es im Land?
In Trier hatten wir – auf die vergangenen 35 Jahre gerechnet – exakt zwölf ungeklärte Mordfälle. Davon haben wir zwei lösen können. Zehn haben wir also derzeit noch. Im Zuge der NSU-Serie sind bundesweit noch mal alle ungelösten Fälle der vergangenen 30, 35 Jahre erfasst worden, um zu sehen, ob es Zusammenhänge geben könnte. Dabei kam heraus, dass es in Rheinland-Pfalz etwas mehr als 100 Fälle sein dürften. Statistisch gesehen bleibt rund alle vier, fünf Jahre ein Fall ungeklärt.
Wie hoch ist denn grundsätzlich die Aufklärungsquote bei Mord?
Morde und Tötungsdelikte haben generell eine Aufklärungsquote von mehr als 90 Prozent. Das liegt vor allem daran, dass es sich meist um Beziehungsdelikte handelt. Die Kunst ist es dann jedoch, diese Beziehungen konkret herzustellen. Zudem gehen wir immer mit einem großen Personalaufwand an solche Fälle heran. Aus diesen beiden Gründen ist auch die Erfolgsquote relativ hoch.
Mittlerweile steht Ihnen auch DNA-Technik zur Verfügung? War sie eine Revolution in der Arbeit der Kriminalpolizei?
Die DNA-Technik ist seit Mitte der 90er-Jahre polizeitauglich. Und sie ist nicht nur für unsere Cold Cases eine Revolution gewesen. Das hatte eine ähnliche Bedeutung wie der Fingerabdruck, der ja lange das Nonplusultra war. Und die Technik hat sich auch immer weiterentwickelt. Mittlerweile geht das hin zu einer Phänotypisierung, also einer erweiterten DNA-Analyse. So ist es jetzt bereits möglich, beispielsweise Geschlecht, Haarfarbe, Augenfarbe oder Alter mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu ermitteln. Aber natürlich spielt die DNA-Technik gerade für die Cold Cases eine große Rolle, die ja oft bis in die 80er-Jahre zurückreichen. Anfang 2000 sind alle Fälle noch mal auf Asservate überprüft worden, um neue Spuren zu finden.
Die Kriminalpolizei in Trier bittet unsere Leser 33 Jahre nach der Tat um Hinweise, die zur Klärung des brutalen Verbrechens beitragen können, weil sie sich an bestimmte Dinge erinnern können oder im Nachhinein an relevante Informationen gelangt sind.Fall Beatrix Hemmerle: Mordkommission Trier nimmt Hinweise entgegen
Was ist das grundsätzliche Problem bei den Cold Cases?
Zunächst natürlich die zeitliche Dimension. Nach 30 Jahren stellt sich etwa schon die Frage, wer überhaupt noch am Leben ist. Das größte Problem ist aber, dass in den 1980er-Jahren noch viel mit Schreibmaschine geschrieben worden ist. Ein einziger Fall kann locker zwei, drei Aktenschränke voll mit Leitzordnern bedeuten. Das Erste, was wir in Trier beim Aufrollen alter Fälle machen, ist, die Akten zu digitalisieren, damit sie für uns greifbar werden. Da ist es nicht damit getan, Blätter auf den Kopierer zu legen. Dazu brauchen Sie erfahrene Kollegen, die einschätzen können, welche Informationen in den alten Akten drin stecken. Der Aufbau einer Datenbank kostet viel Zeit. Oft sind ja Hunderte Zeugen befragt worden. In einem Cold Case haben wir dazu mehr als ein Jahr gebraucht.
Manchmal hilft auch „Aktenzeichen XY“. Haben Sie die Sendung auch als Kind geschaut? Welche Erinnerungen verbinden Sie damit?
Die Sendung habe ich in der Tat als Kind gesehen. Und wie die meisten anderen Kinder auch bin ich danach schon etwas ängstlich ins Bett gegangen. Zumal sie ja auch immer am Abend gelaufen ist.
Und dann sind Sie plötzlich selbst in der Sendung. Können Sie mal sagen, wie das genau abläuft?
In der Regel dauern die Termine zwei Tage. Sie reisen also an und führen ein Vorgespräch mit dem Moderator Rudi Cerne. Dann wird meist auch der Film gezeigt, der im Vorfeld gedreht worden ist. Die Redakteure waren dazu in der Regel schon bei uns auf der Dienststelle, um den Fall durchzugehen und genug Material zu sammeln. Danach wird die Sendung einmal komplett geprobt und durchgesprochen. Es ist schon sehr spannend, da zu stehen – wohl wissend, dass jetzt Millionen Zuschauer vor dem Fernseher sitzen. Auch die Familie und die Kollegen. Man versucht also, möglichst keinen Fehler zu machen. Schon allein der Weg vom Podest zu Moderator Rudi Cerne ist gar nicht so einfach. Da wollen Sie nicht stolpern.
Welche Reaktionen erhalten Sie auf die Sendung. Klingelt danach ununterbrochen das Handy? Und wie viele Hinweise bekommen Sie?
Während der Sendung werden die Hinweistelefone der Dienststelle mit vier, fünf Personen besetzt, die sich alle Hinweise und Namen notieren. Zwischen 30 und 100 Anrufe kommen da in der Regel schon rein. Aber bei den Cold Cases ist die Zahl der Anrufe geringer als bei aktuellen Fällen. Und natürlich gibt es dann auch Rückmeldungen von Kollegen und Freunden.
Gibt es aus Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung den typischen Mörder? Und was sind die Motive?
Den typischen Mörder gibt es nicht. Was mir in den vergangenen Jahren allerdings aufgefallen ist: Wir haben es immer öfter mit psychisch kranken Menschen zu tun, die Taten begehen, die für andere unfassbar sind. Klassische Morde aus Geldgier und Eifersucht dagegen werden gefühlt seltener.
Töten Frauen anders als Männer?
Die meisten Gewalttaten werden von Männern verübt. Der Anteil der Frauen an Morden dürfte unter 10 Prozent liegen. Wir hatten aber zuletzt auch mal einen Fall, in dem eine Frau fast mit einem Messer getötet hat. Ganz klassisch spielt da auch mal Gift eine Rolle.
Wenn man beruflich mit Mord und Totschlag zu tun hat: Liest man dann eigentlich noch Krimis?
Zum Entspannen lese ich in der Tat gern mal Krimis. Ich habe auch zwei Töchter, die mir immer wieder mal ein Buch hinlegen, das sie spannend finden. Ich schaue mir auch abends gern mal den „Tatort“ an. Dann vergleiche ich, wie realistisch die Krimis sind.
Und: Wie fällt Ihr Urteil aus?
Da gibt es schon große Unterschiede zur Realität. Aber die Krimis müssen natürlich spannend gehalten werden. Unsere Fälle sind auch spannend, aber sie dauern eben länger als 90 Minuten. Vier Wochen Sonderkommission kriegen Sie nicht in einem Taschenbuch komprimiert. Und wir haben eben auch nicht nur einen, sondern oft mehrere Spannungsbögen. Bei uns gibt es etwa den berühmten „Verdächtigen des Tages“. Dann kommt schon Jagdfieber auf. Und abends kommt dann die Ernüchterung, und er hat doch ein Alibi. Dann scheidet er natürlich als Verdächtiger aus. Den größten Spannungsbogen gibt es immer dann, wenn wir den Täter tatsächlich festnehmen können.
Bei vielen Frankreich-Krimis ruft irgendwann immer der Präfekt an und macht Druck auf die Polizei? Hatten Sie schon mal den Mainzer Innenminister oder den Staatssekretär in der Leitung?
Diesen Fall hatte ich in mehr als 40 Berufsjahren noch nie. Natürlich interessiert sich die Politik schon mal für Fälle. Aber ich habe noch nie erlebt, dass wir angewiesen worden sind, schneller zu arbeiten. Das wäre auch nicht ratsam.
Wie sieht es mit den Medien aus?
Dem Informationsbedürfnis kommen wir natürlich gern entgegen. Aber es ist auch wichtig, Täterwissen nicht zu früh zu veröffentlichen. Denn dann haben wir etwa Probleme bei den Vernehmungen.
Wie viele Beamte arbeiten an einem Cold Case? Nehmen wir mal den spektakulären Fall der verschwundenen Trierer Studentin Tanja Gräff, den Sie auch geleitet haben.
Im ersten halben Jahr waren 60 Personen mit dem Fall beschäftigt. Später ist die Zahl reduziert worden. 2015 konnte der Fall nach acht Jahren auch deshalb geklärt werden, weil Forstarbeiter einen Schädel gefunden haben. Der Fundort hat uns direkt vermuten lassen, dass es sich um Tanja Gräff handeln könnte. Das haben DNA-Untersuchungen später bestätigt. Um den Sturz nachzustellen, haben wir uns eigens lebensgroße Puppen mit dem Gewicht von Tanja Gräff vom Bundeskriminalamt kommen lassen. Wir haben also einen Riesenaufwand betrieben, um den Fall zu klären. Wir konnten ihn dann am Ende eindeutig als Unfall einordnen. Einen kriminellen Hintergrund gab es also nicht.
Sie waren auch der leitende Ermittler bei der Trierer Amokfahrt und beim Tankstellenmord in Idar-Oberstein. Da war die Täterfrage schnell beantwortet. Ist das für Sie deshalb ein einfacher Fall?
Was die Klärung der Tat angeht, ja. Aber ganz so einfach ist es doch nicht. Nehmen wir mal die Amokfahrt des psychisch gestörten Mannes durch Trier. An diesem Tag war viel Betrieb in der Innenstadt. Deshalb mussten wir mehr als 500 Personen vernehmen, die Zeugen der Tat geworden sind. Und diese Vernehmungen waren nicht einfach. Rechnen wir mal zwei Stunden pro Zeuge, dann sind Sie schon bei 1000 Stunden. Und mein Personal ist ja endlich. Dann müssen Sie die Aussagen in einem zweiten Schritt noch auswerten. Wer hat wo gestanden und was gesehen? Allein daran haben fünf, sechs Personen über Wochen gearbeitet. Das Gleiche gilt für den Tankstellenmord. Da hatten wir dank der Kameras zwar klare Beweise. In dem Fall war das Problem eher, die Frage zu klären: Warum hat der Mann das getan? Es hat uns sehr viel Zeit gekostet, in die Vita des Täters einzutauchen.
Welche Rolle spielt beim Lösen eines Falls der berühmte Kommissar Zufall? Oder ist es eher ein Geistesblitz wie im Krimi?
Glück und Zufall sind Begriffe, die mich immer nachdenklich machen. Denn wenn wir vorher nicht wichtige Schritte unternommen hätten, wären wir über den Zufall auch gar nicht erst gestolpert.
Haben Sie ein Beispiel?
Es gibt einen aktuellen Fall, in dem eine Ukrainerin tot in einem Hotelbett gefunden worden ist. Wir wussten nicht, wer die Frau ist und wie sie ins Hotel kam. Also haben wir die Bundespolizei angerufen, um zu erfahren, welche Züge an diesem Tag in Trier angekommen sind. Und der Dienststelle war tatsächlich zufällig eine vermisste Frau gemeldet worden. Unsere Frau. Solche Situationen gibt es oft.
Ihr Beruf ist sehr belastend. Kaum jemand bekommt so viele Leichen zu sehen wie Sie. Erhalten Sie psychologische Betreuung?
Unsere Belastung hält sich eigentlich in Grenzen. Und wer diesen Beruf ergreift, muss ja wissen, was auf ihn zukommt. Uns werden aber immer mal Angebote gemacht, die wir bei Bedarf abrufen können. Aber den gibt es eher selten. Wir haben ein starkes Team, in dem Probleme eher untereinander besprochen werden.
Kein Beruf wird so oft verfilmt wie Ihrer. Und dennoch leiden Sie unter Nachwuchsmangel. Warum?
Ja, wir haben in der Tat Nachwuchsmangel. Ein Grund ist wohl, dass es bei uns keine festen Arbeitszeiten gibt. Da werden Sie auch mal mitten in der Nacht gerufen. Arbeitstage gehen bei Ermittlungen auch oft über 14, 15 Stunden. Es kommt sogar vor, dass Sie eine ganze Nacht durcharbeiten. Manchmal haben wir so viele Sonderkommissionen, dass wir überhaupt nicht mehr in die Puschen kommen. Viele Kollegen denken sich deshalb wohl: Da habe ich lieber geregelte Arbeitszeiten und mehr Freizeit. So kommt es, dass die Zahl der Bewerber bei der Kripo zurückgegangen ist.