Unterversorgung im Westerwald
Psychosoziales Netzwerk sucht Lösung für junge Menschen
Zu viele Kinder und Jugendliche, die unter psychischen Belastungen, Störungen oder Erkrankungen leiden, finden keine therapeutische Hilfe.
Birgit Piehler

Nicht nur durch Corona ist die Zahl psychisch belasteter oder erkrankter Kinder und Jugendlicher gestiegen, für die meisten von ihnen gibt es kaum oder nur nach langer Wartezeit Hilfe. Das Psychosoziale Netzwerk Westerwald sucht nach Lösungen.

Im Rahmen ihrer Veranstaltungsreihe „Impulse digital“ hatte die CDU-Kreistagsfraktion im Westerwald eine Reihe fachkompetenter Personen und Interessierte zu einer Online-Diskussion über die derzeit alarmierend schlechte psychotherapeutische und psychiatrische Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Westerwald eingeladen.

Anlass war der Hilferuf des Psychosozialen Netzwerks Westerwald Ende 2024, der mit einem Brandbrief an die Vertreter der Regional- und Landespolitik, die Gesundheitsausschüsse, die Gesundheitskassen, die Landestherapeutenkammer und die Kinderärztliche Vereinigung gerichtet war, um auf die Herausforderungen in diesem Bereich aufmerksam zu machen.

Brandbrief nach Mainz entsendet

Die Veranstaltung wurde vom Vorsitzenden der CDU-Kreistagsfraktion, Stephan Krempel, moderiert, der mit Johanna Hörter von der Regionalen Diakonie und Selina Mende vom Verein Frauen gegen Gewalt, beide auch Vertreterinnen des Psychosozialen Netzwerks Westerwald, sprach. Zudem nahmen Sarah Omar, Leiterin des Gesundheitsamts, sowie Andreas Kloft, ein praktizierender Kinder- und Jugendpsychotherapeut, sowie weitere Interessierte teil. Ziel war es, die aktuellen Rahmenbedingungen der psychosozialen Versorgung im Westerwald zu analysieren und mögliche Lösungsansätze zur Verbesserung der Situation zu erörtern.

In dem Brandbrief hatte das Netzwerk auf die Unterversorgung im Bereich professioneller Unterstützung von Kindern und Jugendlichen aufmerksam gemacht, weil jedes fünfte Kind im Westerwaldkreis an einer psychischen Störung erkrankt ist und jedes dritte unter psychischen oder psychosomatischen Beschwerden leide. Das sind etwa 7660 beziehungsweise 12.770 junge Menschen. Weil das Hilfesystem auch weiterhin chronisch überlastet ist, ganz besonders in Rheinland-Pfalz, fordert das Netzwerk vor allem die Beseitigung vorhandener Transportprobleme, die verhindern, dass junge Menschen einen Therapeuten aufsuchen zu können, sowie umfangreichere Unterstützungsangebote an Schulen und die Überarbeitung der Bedarfsplanung.

Überlange Wartezeiten nicht tragbar

Johanna Hörter erläuterte zudem, dass die Wartezeit auf einen Behandlungsplatz für ein Kind etwa ein Jahr betrage, was gerade für diese jungen Menschen ein untragbares Problem bedeute, erst recht, wenn es ein belastetes Verhältnis zu den Eltern habe, etwa durch Ausübung häuslicher Gewalt. Der Westerwaldkreis habe keine eigene Jugendpsychiatrie, denn diese ist nach Altenkirchen übergegangen, und die Kinder können teils den ÖPNV nicht nutzen oder zahlen. Die Zahl der Erkrankungen steige noch, es gebe viele Anfragen. Wie viele genau sei jedoch nicht zu bestimmen, da sie nicht meldepflichtig seien.

Bekanntlich sei die Anzahl der betroffenen Kinder nach Corona sprunghaft gestiegen, so Sarah Omar. Viele hätten Schulangst, verschärft würde die Situation außerdem dadurch, dass es teils schon gar keine Wartelisten für eine Behandlung mehr gebe. Kinder, die eine stationäre Behandlung benötigen, warteten mindestens sechs Monate. Es seien Kinder dabei, die 18 Monate nicht in der Schule waren und das System ohne Abschluss verlassen werden, sagt Omar. Dabei ließen sich beispielsweise kindliche Angststörungen gut behandeln, wenn sie nicht zu lange „anbrennen“. Letztendlich belasteten kranke Kinder auch Eltern sehr stark.

„Es stumpft ab.“
Kinder- und Jugendpsychotherapeut Andreas Kloft zum Umgang mit dem hohen Therapiebedarf, der nicht erfüllt werden kann.

Andreas Kloft bestätigte aus seiner beruflichen Erfahrung heraus, dass es gerade für Angstpatienten einer zeitnahen Behandlung bedarf. Die Psychotherapie habe unter den Ärzten keine gute Lobby. Auch bei der ungerechten Verteilung der Kassenzulassungen spiele das eine Rolle. Er selbst habe einen halben Kassensitz abgegeben, auf den es unzählige Bewerbungen gab. Fachkräfte seien also durchaus vorhanden. Nachdem er aufgrund der Anmeldungszahlen bei einer Wartezeit von vier Jahren lag, habe er die Warteliste abgeschafft, „Es stumpft schon ab“, sagt Kloft. Oft reiche ein therapeutischer Ansatz mit dem Kind alleine nicht, wenn nicht die Eltern mit einbezogen würden. Doch diese verweigerten häufig die Mitarbeit. Kinder müssten oft viel schultern.

Kloft stellt sich ebenfalls hinter die Idee, die Betreuung an Schulen auszubauen, denn Jugendliche können so Vertrauen zu Betreuungspersonen aufbauen und reden, möglicherweise auch ohne, dass eine Therapie vonnöten sei. Die Wartezeiten, so der Therapeut, müssten durch die Zulassung von mehr Kassensitzen, die Einbeziehung von Schulangeboten mit fachgerechter Betreuung sowie Fachkräften mit systemischem Ansatz verkürzt werden.

Verstärkter Einsatz von Schulsozialarbeit

Die Wirgeser Bürgermeisterin Alexandra Marzi, als Teilnehmerin zu Gast, bestätigte aus ihrer Verbandsgemeinde, dass die Schulsozialarbeit nicht mehr wegzudenken sei, doch sei sie finanzielle Aufgabe der Kommunen. Marzi regt ebenfalls an, die Schulsozialarbeit besser aufzustellen. Die Jugendlichen würde zwar Vertrauen aufbauen, doch erfahrungsgemäß blocken Eltern häufig ab, so Marzi.

Selina Mende bestätigt das – vor allem Väter würden das häufig nicht erlauben, dass das Kind beraten werde. Kinder hätten ein Recht auf Beratung, doch ohne das Einverständnis der Eltern ist dies für Kinder unter 15 Jahren nicht möglich.

Politik „ganz oben“ muss thematisieren

Die Psychotherapie wird es immer etwas schwerer haben, griff Kloft das Wort noch einmal auf. Gerechtigkeit scheine da nicht gewollt zu sein. „Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft, sie unterliegen großen Belastungen mit dem, was in der Welt passiert“. Er erinnerte nochmals an die vielen Jugendlichen, die so keinen Schulabschluss bekämen: „Dies muss irgendwie aufgefangen werden.“

Einig war sich die Runde bezüglich der notwendigen Verbesserung der Erreichbarkeit von Therapieplätzen und Ansprechpartnern für die jungen Menschen. Vonseiten der Krankenkassen habe es keine Rückmeldung auf Anfrage nach Taxischeinen gegeben. Eine Idee sei, dies über eine Stiftung zu regeln, doch dass müsse zentral verwaltet werden. Das System müsse neu gedacht werden – das ist, was Stephan Krempel und das Netzwerk den heimischen Bundestagsabgeordneten mit auf den Weg nach Berlin geben möchten, um wenigstens kleinschrittig Verbesserungen zu erreichen.

Die wichtigsten Forderungen

Die wichtigsten Forderungen des Psychosozialen Netzwerkes sind:

  • Weitere verfügbare Therapieplätze.
  • Ausbau der Möglichkeiten, den ÖPNV besser oder Taxischeine zur Anbindung an einen Therapieplatz nutzen zu können.
  • Vom System Schule unabhängige, aber es unterstützende Schulsozialarbeit.
  • Weiterbildung für Personen mit diesen Aufgaben und fallbezogene Supervision im Team.

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