Der gelernte Zimmermann hatte sich nach seiner Ausbildung dazu entschieden, auf die Walz zu gehen, und war im August 2020 schon einmal über das Emmelshausener Ortsschild gestiegen, um sich anschließend nicht noch einmal umzudrehen, sondern den Blick nach vorne zu richten. In eine Zukunft voller Ungewissheit, voller Abenteuer und voller neuer Erlebnisse.
Rund 600 Handwerker, darunter 40 verschiedene Gewerke, sind derzeit auf Wanderschaft. Sie sind in verschiedenen Schächten organisiert, insgesamt neun gibt es davon in Deutschland. Sie bestehen teilweise seit eineinhalb Jahrhunderten und haben verschiedene Bräuche und Rituale. Als Mattis Stamm sich dazu entschieden hat, auf Wanderschaft zu gehen, schloss er sich den Fremden Freiheitsbrüdern an. „Das war einfach eine Frage der Sympathie“, erzählt der Emmelshausener.
Ohne Handy und nur mit dem Nötigsten geht’s auf die große Reise
Er hatte zuerst über ein Auslandsjahr nachgedacht, sich dann aber – auch dank eines Denkanstoßes seines Vaters Rolf Stamm – mehr und mehr mit der Idee angefreundet, auf Wanderschaft zu gehen, um das Gefühl absoluter Freiheit zu erleben. Pläne hat er vorher keine gemacht, sich keine Route zurechtgelegt, sondern sich treiben und von seinem Weggefährten inspirieren lassen. Der nämlich, so ist es auf Wanderschaft üblich, holte ihn in Emmelshausen am Straßenschild ab und legte mit ihm den ersten Teil seiner Tour zurück.
Die Idee dahinter: Jemand, der schon länger auf Wanderschaft ist, kümmert sich um einen Neuling, steht ihm mit Rat und Tat zur Seite. „Die Walz lebt deswegen weiter, weil das Wissen weitergegeben wird“, sagt Mattis Stamm. Und sie lebt davon, dass sich die Wandergesellen mit wenig begnügen. Der Emmelshausener hatte eine Wanderkluft an, eine Arbeitskluft in seinem Bündel, das nötigste Handwerkszeug wie Stemmeisen, Handsäge oder Bleistift, Wechselkleidung und sein Wanderbuch dabei. In diesem Wanderbuch sammelte er während seiner Reisen die Siegel der Städte, die er besucht hat, sowie Arbeitszeugnisse, die die Arbeitgeber direkt dort reinschrieben. „Man lernt, sich auf das zu reduzieren, was man braucht“, erzählt Mattis Stamm. Ein Handy beispielsweise gehörte nicht dazu. Das ist während der Wanderschaft nicht erlaubt.
Stattdessen konnte er nur dann Kontakt zu seiner Familie aufnehmen, wenn er die Möglichkeit hatte, das Telefon eines anderen oder einen Computer zu nutzen. In den ersten Monaten entschied sich der Emmelshausener allerdings bewusst dagegen – auch auf den Rat seines Begleiters hin. „Das war gut und wichtig für einen klaren Cut. Ich glaube, meinen Eltern ist das schwerer gefallen als mir. Denn ich war unterwegs, habe ein aufregendes Leben geführt, während sie zurückgeblieben sind.“
Für Mattis Stamm ging es dann zuerst einmal durch die DACH-Region, also durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. „Das ist gut, um erst einmal reinzukommen“, erzählt der 23-Jährige. Denn gerade in diesen Ländern sei die Walz kein unbekanntes Phänomen, man lerne so, auf die Leute zuzugehen, werde mit der Zeit deutlich gefestigter. Im zweiten Jahr kann man dann seinen Reiseradius auf ganz Europa, im dritten auf die ganze Welt ausweiten.
Mattis Stamm ist, abgesehen von einem einmonatigen Abstecher nach Zentralasien, in Europa geblieben, war vor allem lang und oft in den skandinavischen Ländern. Gereist ist er überwiegend per Anhalter. Denn das ist eine der Regeln: dass man fürs Reisen kein Geld ausgibt. Meist sei ihm das gelungen, erzählt er mit einem Lachen. Lediglich, als es für ihn auf die Kanareninsel Gran Canaria ging, musste er diese Regel brechen, um ein Flugzeug zu nehmen. „Es gibt welche, die versuchen, die tingeln durch den Hafen und versuchen, auf einem Segelschiff anzuheuern, aber ich wollte nicht zu viel Zeit verlieren“, erklärt er.
Auch wenn er die Zeit im Süden genossen hat, so war es doch der Norden, der es ihm angetan hatte. Hier vor allem Schweden und Norwegen, wo er auch einen Winter lang unterwegs war und damit zu einer Zeit, in der es kaum hell wurde, in der Temperaturen von teilweise -20 Grad herrschten. Das war auch deswegen herausfordernd, weil – das besagt eine weitere Regel der Walz – er während seiner Wanderschaft auch für Unterkünfte kein Geld ausgeben darf. Solange er irgendwo angestellt war, stellten die Arbeitgeber die Unterkünfte, doch während seiner Wanderschaft von A nach B schlief er entweder in der freien Natur oder in einem frei zugänglichen Unterschlupf.
Umbau einer Mühle aus dem 18. Jahrhundert
„Ich hatte aber einen Schlafsack, in dem man es auch bei Minustemperaturen gut ausgehalten hat“, erzählt er. Und das sei im Norden teilweise nötig gewesen. Dort, wo die Menschen unglaublich hilfsbereit seien, wo man allerdings aktiv mit seinen Anliegen auf jemanden zugehen müsse. Und auf diese Weise fand er dann auch die unterschiedlichsten Anstellungen, wirkte an ganz verschiedenen Projekten mit und blieb manchmal einen Monat, manchmal auch etwas länger bei einem Arbeitgeber. Besonders die Umgestaltung einer alten Mühle aus dem 18. Jahrhundert ist ihm in guter Erinnerung geblieben, denn hier ließen die Auftraggeber ihm und den anderen Gesellen relativ freie Hand bei der Gestaltung, schenkten ihnen das Vertrauen.
Das Arbeiten ist laut Mattis Stamm in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich. Während die DACH-Region sehr fortschrittlich sei, sehe das in Skandinavien schon wieder ganz anders aus. „Das war teilweise schon stumpf, so nach dem Motto: Das war schon immer so, das bleibt auch so.“ Dennoch habe er viel mitgenommen. „Und wenn es nur ein 'So macht man es nicht' war“, sagt er mit einem Lachen.
Zu der Frage, was er für sich mitgenommen hat von seiner langen Wanderschaft, sagt er: „Ich bin selbstbewusster geworden, kann besser auf Menschen zugehen, bin als Mensch gereift.“
Unterwegs die Frau gefunden, mit der er die Zukunft teilen will
Aber das Wichtigste, was er mitgenommen hat, das wird ihn auch in Zukunft begleiten: Bereits nach einem halben Jahr lernte er in Soest seine spätere Freundin während eines Fests der Wandergesellen kennen. Anschließend verloren sich die beiden erst einmal aus den Augen, treffen sich aber rund zwei Jahre später wieder – und wurden schnell ein Paar.
Auch bei seiner Willkommensparty in Emmelshausen war sie dabei. Und die Pläne für die nächsten Jahre sind auch schon geschmiedet: Gemeinsam geht es nach Bremen. Während sie studiert, wird er seine Meisterschule ablegen. Wieder fernab der Heimat und doch im Herzen angekommen. Mattis Stamm wirkt zufrieden mit sich und seinem Leben. Dazu hat auch die Walz beigetragen.