Koblenz
Kommentar zum EM-Start: Ein Turnier macht noch kein Sommermärchen
Jochen Dick
Jochen Dick
Kevin Rühle. MRV

Nichts weniger als ein Sommermärchen 2.0 soll es bitteschön werden. Die Erwartungen von vielen sind groß an dieses Heimturnier, das am Freitag mit dem Spiel der deutschen Mannschaft gegen Schottland beginnt.

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Schließlich kann der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Besonderen vieles erreichen: Er kann Menschen zusammenführen, kann für Begeisterung sorgen und Identifikation stiften sowie Gemeinsamkeit und Gemeinschaft entstehen lassen. Wie die WM 2006, das erste Sommermärchen.

Der Sommer 2024 unterscheidet sich nun aber ganz grundsätzlich von dem vor 18 Jahren, weshalb ein direkter Vergleich der beiden Turniere unangebracht und unfair ist. Die gesamtgesellschaftliche und geopolitische Lage ist eine völlig andere als damals. Krisen und Kriege, Ängste und Spaltung, Populismus und eine gefährliche politische Rechtsauslage in großen Teilen Europas bestimmen zunehmend den Alltag. Da kann ein Fußball-Turnier bunte Ablenkung vom grauen großen Ganzen sein, einen positiven Gegenimpuls zu allem Negativen setzen – nicht weniger, aber wohl auch nicht mehr.

Selbst König Fußball kann nicht alles. Vor allem aber darf er nicht überladen werden mit politischen Themen. Vor, während und nach der WM 2018 in Russland wurde ein Foto der deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan als Sinnbild für gescheiterte Integration missbraucht. Bei der EM 2021 gab es tagelange Debatten um die letztlich verbotene Regenbogenbeleuchtung des Münchner Stadions. Vor und während der WM 2022 in Katar lähmte die Diskussion um die „One Love“-Kapitänsbinde Köpfe und Beine in der DFB-Auswahl.

Alle Debatten waren richtig und wichtig, doch sollte in erster Linie die Politik in solchen Angelegenheiten Klartext reden und die Probleme lösen. Was wiederum ganz sicher nicht heißen darf, dass sich der Sport und seine prominenten Athleten mit ihrer Strahlkraft aus der politischen und gesellschaftlichen Verantwortung stehlen dürfen. König Fußball kann nicht komplett unpolitisch sein.

Eine positive Grundstimmung, Sommerwetter und sportlicher Erfolg der Heimmannschaft – das waren die maßgeblichen Zutaten der rauschenden, aber im Nachhinein auch teilweise verklärten WM 2006. Deutschland kann sich nun wie vor 18 Jahren als weltoffenes, tolerantes und fröhliches Land präsentieren – mit Organisationstalent, Gastfreundschaft und Weitblick.

Bei jenem Heimturnier waren viele Besucher angenehm überrascht ob des lockeren schwarz-rot-goldenen Anstrichs des Turniers. Der oder die Deutsche galt plötzlich nicht mehr als bierernst und humorbefreit, sondern als ausgelassen und begeisterungsfähig. Dies sollte gutes Beispiel und Ansporn für die anstehenden Turniertage sein. Besser geht es vielleicht nicht als bei besagter Heim-WM im Märchenformat und mit Legendenstatus, aber das muss es auch nicht.

Im Leben kann nicht immer alles eine Steigerung haben. Insofern muss es auch nicht gleich ein neuerliches Sommermärchen sein, dieses Fußball-Turnier über 31 Tage in zehn deutschen Städten, mit Millionen Fans aus Europa und der ganzen Welt. Es reicht in diesen schwierigen und herausfordernden Zeiten auch eine schöne Sommergeschichte, die von sportlichen Höchstleistungen, Einheit, Toleranz, Respekt und Fairness erzählt.

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