Es ist noch gar nicht so lange her, da dachte man bei Nadeln und Wolle an strickende Grüne im Bundestag, kratzende Pullover von Omi, ungewaschene Ökotanten und an den Muff vergangener Tage. Heute nennt der Lifestyle Stricken und Häkeln „Crafting“, und plötzlich ist es schwer angesagt, das Knäuel sogar mit in Bus, Bahn und Tram zu nehmen. Was einst als biederes Hobby verschrien war, feiert nun eine beachtenswerte Renaissance: das Stricken.
In Zahlen schlägt sich die neue Woll-Lust laut der Initiative Handarbeit mit 270 Millionen Euro Umsatz allein im vergangenen Jahr nieder. Seit den 90er-Jahren hatte die Branche mehr oder weniger brachgelegen, jetzt legten die Produzenten von Handstrickgarnen allein im Vergleich zu 2008 rund 20 Millionen zu.
Allerdings ist das neue Stricken ein Phänomen, das sich kaum anhand lebloser Kalkulationen begreifen lässt. Vielmehr wirkt diese Beschäftigung in einem so hochkomplexen und technisierten Zeitalter, wie es unseres ist, wie ein Entschleuniger. Das sagt Angela Probst-Bajak, Pressesprecherin der Initiative Handarbeit. „Man kann seinen Gedanken freien Lauf lassen und wieder etwas mit den Händen schaffen.“
Stricken, das heißt Entspannung vom stressigen Job, von der Hektik der Stadt. Eine Art Yoga auf dem Sofa, wo die Gedanken auf die Reise gehen, während die Finger schicke Mützen, Socken, Schals und Pullover produzieren. Gerade junge modebewusste Frauen entdecken dieses Hobby für sich neu. Angeregt werden sie von der internationalen Fashionliga, die sie lehrt, wie kreativ und individuell Mode aus Wolle sein kann.
Designer wie Chloe oder Louis Vuitton zeigen feine Maschen-Couture und steigern damit den Haben-wollen-Faktor ins Unermessliche. „Man schafft sich etwas, das man nicht an jeder Straßenecke kaufen kann“, weiß Probst-Bajak. Es ist also auch eine neue Lust an Individualität, die das Strickgeschäft belebt, der Wunsch danach, eine modische Insel zu bilden im Strom der Gleichförmigkeit. Denn die Materialien kann man selbst bestimmen, feinste Merino-Wolle oder Kaschmir zum Beispiel, die sich auf der Haut anders anfühlen als Stoffe von der Stange: „Das ist ein ganz anderes haptisches Erlebnis.“
Auftrieb und eine neue Wahrnehmung bekommt der neue Strick-Trend, der seinen Ursprung in Amerika hat, durch prominente Vertreter: Olympiasiegerin Magdalena Neuner strickt vor dem Wettkampf, „Sex and the City“-Star Sarah Jessica Parker am Set, selbst das Topmodel Kate Moss wurde bei der Handarbeit beobachtet. In Japan, einem Land, das selbst oft Trends generiert, gibt es sogar unter Männern bekennende Fans, die mit Zwirn und Nadel hantieren, als seien es Schraubenschlüssel oder Bohrmaschine.
Stricken ist ein Hobby, das Sinn, Freundschaften und Gutes stiftet. Im vergangenen Jahr schickte die Initiative Handarbeit bei einer Hilfsaktion rund 20 000 Decken für Neugeborene nach Südafrika und Pakistan, unzählige Frauen hatten sich dafür getroffen und Masche um Masche gestrickt. In vielen größeren Städten treffen sich Frauen zu Kursen und Strick-Treffs, man tauscht sich in Internet-Communitys und Foren aus. Mit dem neuen Wollrausch ist eine Lawine losgetreten worden, die sich so leicht nicht mehr stoppen lässt. Und wahrscheinlich wird es auch nicht mehr lange dauern, bis die kleine Schwester des Strickens, die Häkelei, die Bühne der Handarbeiten betritt.
Giovanna Marasco