RZ-KOMMENTAR: Sarrazin ist das kleinere Problem

Chefredakteur Joachim Türk zum Bundesbankvorstand

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Offenkundig ist es doch leichter, einen Bundesbankvorstand loszuwerden, als Türken und Araber in Deutschland zu integrieren. Aber nur weil sich, wie es so schön heißt, „Politiker aller Parteien„, vom Bundespräsidenten über die Kanzlerin bis zum SPD-Ortsverein, so angestrengt haben, wird es wohl gelingen, Thilo Sarrazin von seinem Amt zu befreien. Bevor jetzt alle, von dieser Leistung angenehm ermattet, zur Tagesordnung übergehen, sei daran erinnert: Das andere Problem gibt es immer noch.

Da helfen weder die Entlassung von Thilo Sarrazin noch sein Ausschluss aus der SPD: Deutschland hat Schwierigkeiten mit der Integration, die offenkundig schon anfangen, wenn man über sie spricht. Und das Problem ist für alle sichtbar. Nicht nur in einigen Berliner Stadtteilen. Auch in unserer Region gibt es Schulklassen, in denen Kinder mit ausländischen Wurzeln die Mehrheit stellen, wo viele dieser Schüler der Schulsprache nicht ausreichend mächtig sind und von ihren Eltern nur unzureichend mit Lernmaterial ausgestattet werden, weil der Wert von Bildung – vor allem für Mädchen – vehement abgestritten wird. Diese Kinder treffen wir nach der Schulzeit nicht in Unternehmen wieder, sondern in der Fußgängerzone. Der Augenschein trügt halt nicht.

Dass an vielen Orten das Integrationsproblem offenkundig ist, aber dennoch seit Jahren nicht angepackt wird, erzeugt eine böse Stimmung im Land. Genau diese Stimmung benutzt und bedient Thilo Sarrazin. Geschickt vermengt er dabei belastbare Statistiken mit einer rassistischen Abstammungslehre, die es eigentlich verbietet, sich ernsthaft mit seinem Buch zu befassen.

Dieses „Nichtbefassen“ interpretieren jetzt leider „Politiker aller Parteien„ als willkommenen Anlass, Herrn Sarrazin als das eigentliche Problem zu betrachten – und nicht die Inte-grationsfragen. Rauswurf aus dem Bundesbankvorstand, Ausschluss aus der Partei. Ende der Debatte. Noch mal Glück gehabt.

So wird es leider kommen. Und der Autor hat durch sein Gefasel über Juden-Gen und „dumm geboren“ dazu beigetragen. Vielleicht wollte er ohnehin keine ernsthafte Diskussion lostreten, sondern über den Stammtisch möglichst viele Bücher verkaufen. Jammerschade. Da schafft es einmal ein politisches Buch, trotz hoher Auflage zur Mangelware zu werden, und alles, was im Gedächtnis hängen bleibt, ist die düstere Vision eines anno 2050 überfremdeten Volkes.

Als ob wir eine Wahl hätten in unserem alternden, aussterbenden Land. Aber die dringend erforderliche Zuwanderung muss gestaltet, die Migranten müssen in Deutschland in die Pflicht genommen werden – auch jene der zweiten und dritten Generation. Jetzt, wo das Thema präsent ist wie nie, wo die Mehrheit der Deutschen Herrn Sarrazin trotz seines verbalen Amoklaufs applaudiert, muss verantwortungsvolle Politik deutlich machen: Ja, wir haben die Probleme mit Zuwanderern vernachlässigt. Ja, wir brauchen auch in Zukunft hoch qualifizierte Menschen aus anderen Ländern, damit unser Land überlebt. Nein, wir können es uns nicht leisten, dass vor allem viele junge Türken und Araber in Deutschland ohne Schulabschluss – und dann ohne Arbeit – bleiben und abgleiten in Parallelwelten. Dass es auch positive Beispiele gibt, macht uns nicht träge, sondern treibt uns an.

Und wenn wir schon dabei sind, werden wir natürlich auch die christliche, deutsche Unterschicht aktivieren, deren Kinder ebenfalls im Elternhaus häufig von Bildung ferngehalten werden. Und die gemeinsam mit muslimischen Altersgenossen in einem sozial undurchlässigen Schulsystem auf Bedingungen stoßen, die einen Aufstieg fast unmöglich machen. Aber um diese Herausforderung werden sich die Parteien noch drücken, wenn Herr Sarrazin seine Abfindung schon ausgegeben und sein nächstes Skandal-Buch geschrieben hat.

E-Mail an Autor: joachim.tuerk@rhein-zeitung.net