Nürburgring
Der Welt entfliehen für ein paar Tage: Eine gemischte Bilanz zu Rock am Ring 2024
Gewohnt ausgelassene Stimmung herrschte das ganze Wochenende vor den Bühnen, wie hier beim Crowdsurfing.
Kevin Rühle

Wenn der letzte Ton bei Rock am Ring gespielt ist, stellt sich stets aufs Neue dieselbe Frage: Was bleibt von der aktuellen Festivalausgabe, was hat sie ausgemacht? Die Antwort hierauf ist meist nur unwesentlich variantenreicher, gewinnt inhaltlich jedoch seit einigen Jahren, im Angesicht von Kriegen und Krisen, wachsend an Bedeutung, denn: Rock am Ring war auch in diesem Jahr wieder ein Festival zum Vergessen – und zwar im (weitestgehend) positiven Sinn.

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Viel ist in den vergangenen Wochen diskutiert worden über die Sicherheit im Land – nicht erst, aber umso mehr nach der perfiden Terrorattacke von Mannheim. Die Europameisterschaft steht unmittelbar vor der Tür, Hunderttausende werden in den kommenden Wochen in Deutschland erwartet, um eine Fußballparty im XXL-Format zu feiern. Eine Woche vor dem Eröffnungsspiel ist ein Megafestival wie Rock am Ring somit quasi eine Art Lackmustest für etwaige Sicherheitskonzepte. Weshalb wir mit den Festivalmachern gern darüber gesprochen hätten, wie sie sich auf diese fragile und sehr spezielle Situation vorbereitet haben. Doch eine entsprechende Anfrage an den Rock-am-Ring-Veranstalter DreamHaus blieb unbeantwortet.

Vonseiten der Polizei wissen wir zumindest, dass die Maßnahmen des Sicherheitskonzepts beim Festival „den aktuellen Erkenntnissen angepasst“ wurden, wie man uns am Freitag mitteilte. Zwar lägen „keine konkreten gefährdungsrelevanten Erkenntnisse“ vor, hieß es, man sei jedoch „für die generell bestehenden Gefährdungslagen vorbereitet“. Zum Redaktionsschluss kann indes konstatiert werden – und das ist die gute Nachricht: Rock am Ring verlief vorfallslos. Und auf dem Festival selbst war ohnehin nicht viel zu spüren von erhöhtem Terrorrisiko, keine Angst unter den Besuchern, die Stimmung gewohnt unbeschwert und ausgelassen. Richtig so.

Wirksam gegen Weltschmerz

Rock am Ring – das zeigte sich vor allem bei der ersten Nach-Corona-Ausgabe 2022, aber auch in diesem Jahr – ist für die Menschen vor allem eines: die (dringend benötigte) Auszeit vom krisengeplagten Alltag, ihr ganz persönliches Fest der Lebensfreude, das sie sich weder von Kriegen und Krisen noch von Terroristen oder Despoten nehmen lassen. Und genau darauf gründet schließlich auch der unbezahlbare Wert des Festivals (und vergleichbarer Veranstaltungen): Sie sind resilient gegenüber der Realität, überaus wirksam gegen den Weltschmerz.

Ein Satz, den man im Gespräch mit Besuchern immer wieder hört – und der seine Gültigkeit auch in diesem Jahr besitzt –, ist: „Wenn sich die Menschen immer so verhalten würden wie hier, wäre die Welt ein deutlich besserer Ort.“ Zugegeben: Es gibt auch bei Rock am Ring genug Verrückte, das bleibt bei 70 000 Menschen auf überschaubarem Raum kaum aus, aber sie wissen sich in diesem Mikrokosmos offenbar zu benehmen, kommen miteinander aus, sind tolerant und friedvoll – von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Heizten der Menge am Freitagabend ordentlich ein: Die Ärzte mit Bela B.
Kevin Rühle

Die Ärzte lieferten bei ihrem Auftritt am Freitagabend quasi den Soundtrack für dieses temporäre Lebensgefühl mit ihrem Hit „Hurra“, in dem es heißt: „Hip, hip, hurra! Alles ist super, alles ist wunderbar!“ Naiv würden das Pessimisten vermutlich nennen. Man kann aber auch ebenso gut aus der entgegengesetzten Richtung argumentieren, dass Rock am Ring vermutlich einer der wenigen verbliebenen Orte ist, an dem die Welt noch in Ordnung scheint.

Dafür, dass sich dieser 
Zustand auch außerhalb des Nürburgrings wieder öfter einstellt, kämpfen Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie Viva con Agua, die gemeinnützige Unternehmergesellschaft Herzkissen oder Wohllebens Waldakademie, die ihre Arbeit 2024 auf dem Festivalgelände im großen Stil präsentieren durften – und dabei mit erfreulich regem Zuspruch bedacht wurden. Neben dem Weltfluchtpotenzial und anderen bewährten Traditionen, die den Mythos Rock am Ring über Jahrzehnte geformt haben, war die große Bühne für NGOs – zumindest in diesem Ausmaß – eine der Neuerungen der aktuellen Ausgabe.

Der Headliner am Samstagabend: Green Day um Frontmann Billie Joe Armstrong
Kevin Rühle

Ein Zeichen steten Wandels, wie etwa auch das deutlich vergrößerte Angebot veganer Speisen auf dem Festivalgelände oder ein – nennen wir ihn: gewöhnungsbedürftiger – Modetrend, gefragt nämlich schienen in diesem Jahr neben Jesus-Kostümen vor allem Kleidungsstücke aus dem Lidl Rock Store, Hemden, Hüte, Socken und Schuhe in den schrillen Farben der eigentlich längst verblassten 80er.

Auf den Bühnen blieben größerer Überraschungen derweil aus. Bands wie die Guano Apes, Madsen oder die Dropkick Murphys machten das, was man von ihnen erwartet. Einen der Höhepunkte des Festivals servierten am Samstagnachmittag zweifellos die Donots, deren Frontmann Ingo Knollmann – in dieser Reihenfolge – einen Moshpit organisierte und darin tatkräftig mitmischte, auf den Händen der Ringrocker zurück auf die Bühne „surfte“, Danger Dan und dessen Antilopengang zu ihrem unangekündigten Gastauftritt begrüßte und mit dem Bobby Car eine (weitere) Runde über die Köpfe der Zuschauer drehte.

Eines der Festivalhighlights: Donots-Sänger Ingo Knollmann cruiste am Samstag mit dem Bobby Car durch die Menge.

Kevin Rühle

Dass sich die Donots noch von der jubelnden Menge verabschiedeten, als die Bühnentechniker längst mit dem Umbau für die nächste Show begonnen hatten, erübrigt eigentlich jede weitere Ausführung zur gelebten Leidenschaft der Alternativerocker – und auch die gehört zur DNA von Rock am Ring. Am Sonntagabend kamen die Donots dann sogar noch einmal zurück für die tags zuvor geforderte Zugabe, spielten auf einer Hebebühne am Rand der Utopia Stage einige Coversongs, ließen Zehntausende Zuschauer mit Blick auf die ersten Wahlprognosen zudem “Die ganze Welt hasst" die AfD anstimmen. Erinnerungswürdig außerdem: Die „Teenage Dirtbag“-Pianodarbietung von Leoniden-Sänger Jakob Amr inmitten der Zuschauer oder Electric Callboys Vortrag des Backstreet-Boys-Klassikers „I Want It That Way“, samt gesanglicher Unterstützung aus Zehntausenden bierbefeuchteten Kehlen.

Wobei zur Wahrheit gleichermaßen gehört: Ausverkauft war Rock am Ring auch in diesem Jahr nicht; von den 85 000 bis 90 000 Zuschauern, die vor der Pandemie regelmäßig und im Jahr nach der Corona-Pause noch einmal an den Ring strömten, ist das Festival inzwischen doch ein Stück weit entfernt.

Rettungskräfte ziehen positive Bilanz

80 000 Besucher haben in den vergangenen drei Tagen den Ring gerockt. Die Polizei spricht von einem friedlichen Fest. Das Straftatenaufkommen sei niedrig ohne herausragende Ereignisse. Natürlich gebe es einzelne Straftaten wie Diebstähle und Körperverletzung, sagt Nils Christ, Pressesprecher der Polizeidirektion Mayen. Aber diese gebe es auch auf jeder Dorfkirmes. Im Verhältnis zu den Zehntausenden Besuchern sei es sehr ruhig. Auch verkehrstechnisch habe man alles unter Kontrolle gehabt. Im Vergleich zu stundenlangen Staus, die es in früheren Jahren gab, sei es nie zu mehr als eine halben Stunde zu Verkehrsstörungen gekommen. Auch Armin Link, Leiter des DRK-Rettungsdienst Nürburgring nannte die Lage insgesamt ruhig.

Bis zum Sonntagnachmittag habe das Deutsche Rote Kreuz 400 Einsätze am Nürburgring gemacht, einmal unter Verwendung eines Rettungshubschraubers. 2600 Besucher hätten mobil versorgt werden müssen. Ebenso hat das Wetter in den Festivaltagen mitgespielt. Mussten noch einige Frühanreiser am Mittwoch, ihre Zelte bei leichtem Regen aufbauen, konnten sich Besucher und Bands am Wochenende über Sonne, klaren Himmel und angenehme Temperaturen freuen. Unwetter wie sie in den vergangenen Wochen teilweise zu Überflutungen und Hochwasser geführt haben, blieben aus. jub

Ein möglicher Grund dafür: Das Line-up ist ohne Zweifel auch heute noch gut, frühere Gäste vom Format Robbie Williams, Aerosmith oder Elton John allerdings waren in der jüngeren Vergangenheit schon eher die Ausnahme und in diesem Jahr gar nicht auf der Bühne zu finden – bei gleichzeitig stetig steigenden Preisen. Hinzu kommt, dass Bands wie Greenday, Billy Talent oder Die Toten Hosen zwar ordentlich Renommee mitbringen, inzwischen aber auch gefühlt jedes zweite Jahr am Ring auftreten. Ein Vorwurf, den man im Übrigen auch auf den Zeltplätzen immer wieder hört unter der steigenden Zahl jener, die sich bei Rock am Ring nur noch wenige bis gar keine Künstler mehr live anschauen, ihren Fokus stattdessen ganz auf das Partyerlebnis auf den Zeltplätzen legen.

Dass die Verantwortlichen von Festivalmacher DreamHaus in dieser Situation – potenziell kritische – Presseanfragen unbeantwortet lassen, die Berichterstattung als solche auch an vielen anderen Stellen erschweren, mag da nur Selbstschutz sein. Es passt aber zugleich auch ins Bild eines Festivals, das für sich eine Ausnahmestellung beansprucht, dieser aber – auch qualitativ – in Teilen nicht mehr gerecht wird.

Neuer Schwung zum Geburtstag?

Im kommenden Jahr feiert Rock am Ring übrigens seinen 40. Geburtstag. Eigentlich ein guter Anlass für ein (selbstkritisches) Resümee, eine gesunde Selbstreflexion. Denn klar ist auch: Der gesellschaftliche Wert des Festivals, die damit verbundene Möglichkeit, für ein paar Tage die Welt zu vergessen, kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Sie schützt aber nicht davor, irgendwann selbst in Vergessenheit zu geraten. Und das wäre – gerade in der aktuellen Weltlage – ein schwerwiegender Verlust.

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