Schon bald werden viele Grippekranke auch wieder in die rheinland-pfälzischen Hausarztpraxen drängen. Ist das für die Ärzte eine Herausforderung in Corona-Zeiten?
Die Grippe an sich ist für uns keine neue Herausforderung. Der Umgang mit diesen Kranken ist für uns eine langjährig geübte Praxis. Da werden wir unsere Strategien auch nicht ändern. Im Gegenteil: Obwohl noch keine Grippeimpfstoffe verfügbar sind, appellieren wir schon jetzt an Patienten, sich impfen zu lassen, weil sie dann ein Risiko weniger haben.
Wer sollte sich in dieser besonderen Grippesaison impfen lassen?
Patienten mit einer chronischen Grunderkrankung egal, welchen Alters, Mitarbeiter von Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Flüchtlingsheimen, Pflegeheimen, Krankenhäusern oder Einrichtungen mit einem hohen Publikumsverkehr wie Supermärkte. Klassisches Beispiel ist die Kassiererin, die enorm viele wechselnde Kontakte hat. Außerdem sollten sich alle Personen ab 60 Jahren impfen lassen – unabhängig davon, ob sie an einer Grunderkrankung leiden. Darüber hinaus propagiert die Politik sehr intensiv die Impfung von Kindern.
Wie sehen Sie das?
Wir als Hausärzteverband sind nicht dagegen. Denn der Impfstoff ist auch für Kinder gut verträglich. Ich sehe aber nicht die zwingende Notwendigkeit, gesunde Kinder generell gegen die Grippe impfen zu lassen. Viel wichtiger halte ich in dieser Saison eine Impfung für Lehrer und Erzieher, damit sich diese selbst vor einer Grippeinfektion schützen. Denn sie können nicht davon ausgehen, dass sich alle Kinder um sie herum impfen lassen.
Gibt es denn dafür überhaupt ausreichend Impfstoff?
Die Information aus Berlin ist: Wir haben vorgesorgt.
Glauben Sie das?
Das müssen wir erst mal glauben. Fragen Sie mich das am Ende der Saison noch mal. Vor drei Jahren hatten wir sehr große Probleme, weil der Grippeimpfstoff das Virus nicht so gut erwischt hat und wir dann sehr viele Fälle hatten. Die Nachfrage nach Impfungen ist im Laufe der Saison explodiert, und es kam daraufhin zu Engpässen. Denn Impfstoffe lassen sich nicht so schnell kurzfristig nachproduzieren.
Sie rechnen aber dieses Jahr mit mehr Grippeschutzimpfungen?
Ja. Die Nachfrage ist schon jetzt deutlich größer als in früheren Jahren. Meine Beobachtung ist, dass es gerade in Berufsgruppen mit vielen Sozialkontakten eine größere Sensibilität für das Thema gibt. Früher haben sie sich oft nicht impfen lassen, weil sie gesagt haben: „Ich bin doch gesund.“ Ich bin mir aber nicht sicher, ob sich am Ende tatsächlich mehr Menschen impfen lassen. Denn das Thema wird sehr kontrovers diskutiert. Wir versuchen zwar, Impfskeptiker mit Sachargumenten zu überzeugen. Aber am Ende ist es die Entscheidung jedes Einzelnen. Daher bin ich auch gegen eine Impfpflicht.
Wegen Corona halten wir Abstand, tragen Masken und achten auch auf Hygiene. Rechnen Sie daher mit weniger Grippekranken?
Das wäre zu erwarten. Allerdings dürfte es keinen massiven Rückgang von Erkältungskrankheiten geben, weil es neben der Influenza auch viele andere Viren gibt, die jedes Jahr wiederkehren. Fest steht, dass wir im Sommer deutlich weniger Magen-Darm-Infekte als üblich hatten.
Was ist die Gefahr, wenn Corona- und Influenzaviren zeitgleich im Umlauf sind?
Die Gefahr ist nicht, dass es zur Entwicklung eines „Supervirus“ kommt, wie teilweise spekuliert wird. Es besteht jedoch das Risiko, dass Patienten erst an Grippe und dann an Covid-19 erkranken können oder umgekehrt. Das ist eine enorme Belastung für den Körper. Deshalb werben wir so für eine Grippeschutzimpfung. Denn auch eine Influenza kann zu schweren Komplikationen führen. Und sie schwächt das Immunsystem, wodurch wiederum das Risiko steigt, bei einer Corona-Infektion einen schweren Verlauf zu haben.
Besteht nicht die Gefahr, dass vermehrt Patienten mit Grippesymptomen in die Praxen gehen, die sich als Corona-Patienten entpuppen?
Nein. Denn wir haben in Rheinland-Pfalz flächendeckend Corona-Praxen etabliert. In unserer Praxis gibt es am Abend eine Infektsprechstunde, zu der nur Menschen mit Infektsymptomen kommen dürfen, damit es keinen Kontakt mit anderen Patienten gibt. Bei uns kommt nahezu kein Patient mehr mit Infektsymptomen unangemeldet in die Praxis. Sie rufen an und werden gefragt, ob sie Fieber, Schnupfen, Husten, Halsschmerzen, Durchfall haben oder ob sie im Ausland waren oder Kontakt mit einem Infizierten hatten. Wenn nur eines dieser Kriterien zutrifft, wird der Anrufer zur Infektsprechstunde geladen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass mit dem Start der Grippesaison Mitte Januar schlichtweg auch mehr Influenza-Patienten in diese Sprechstunden kommen werden.
Und dann wird getestet, ob es Corona oder Influenza ist?
Jein. Wir können in den Praxen zwar alle Infektpatienten auf Corona testen, aber nicht automatisch auch auf Influenza. Hier bräuchten wir dringend die Möglichkeit zur parallelen Testung auf Influenza ohne Regressrisiko für die Praxen. Daher kämpfen wir dafür, während der Grippesaison von Januar bis Mitte April unbudgetiert, also unbegrenzt Influenza-Schnelltests zu machen. Es ist ein großer Wunsch der Hausärzte an die Krankenkassen, bei der Influenza ähnlich unkompliziert zu verfahren wie bei Corona-Tests. Denn es ist genauso wichtig, eine Influenza nachzuweisen, weil auch diese zu schweren Komplikationen führen kann. Bislang müssen wir im Regelfall den klinischen Verlauf abwarten, um herauszufinden, ob es sich um eine Erkältung oder eine Influenza handelt. Mit einem Schnelltest könnten wir viel früher mit der richtigen Therapie beginnen.
Was fordern Sie noch?
Um die Hausarztpraxen in den Infektmonaten zu entlasten, fordern wir, die telefonische Krankmeldung wiedereinzuführen, wie sie im Frühjahr kurzzeitig möglich war. Patienten mit banalen Infekten, die keine medizinische Versorgung benötigen, sondern nur eine Krankmeldung, gehören in diesen Zeiten nicht in die Praxen. Leider gibt es dazu auf Bundesebene bisher keine Bereitschaft.
Anfang Januar soll es ja laut Robert Koch-Institut den ersten Corona-Impfstoff geben. Könnten wir also mit einem blauen Auge davonkommen, wenn erst dann die heiße Phase der Influenza-Saison startet?
Ich rechne nicht damit, dass wir in den Praxen einen Impfstoff im Januar haben. Das wird eher im Sommer oder Herbst 2021 der Fall sein. Ich gehe davon aus, dass wir diese Grippesaison ohne einen Corona-Impfstoff durchstehen müssen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir mithilfe von Tests zwischen Corona und Influenza unterscheiden können.
Die Menschen zieht es im Herbst wieder nach drinnen. Rechnen Sie deshalb mit einem starken Anstieg der Corona-Zahlen?
Es liegt in der Natur der Sache, dass das Virus in der kalten und feuchten Jahreszeit bessere Chancen hat, von Mensch zu Mensch überzuspringen. Die Zahlen werden aber nicht so stark wie im Frühjahr steigen, weil jetzt mehr Menschen Abstand halten, Masken tragen und auf Hygiene achten. Außerdem sind die Hausärzte deutlich besser mit Schutzausrüstung versorgt. Wir sind insgesamt besser vorbereitet – mit den Corona-Praxen und dem Fahrdienst der Kassenärztlichen Vereinigung, der uns entlastet. Und so schlimm es klingt: Leider hilft uns der Klimawandel. Es wird vermutlich erst ab Januar kalt und feucht, sodass sich viele noch lange Zeit draußen aufhalten können. Bis Weihnachten bin ich daher relativ entspannt. Die größte Herausforderung sehe ich für die Hausarztpraxen im ersten Quartal 2021.
In Bayern hat Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kostenlose Tests auch bei symptomfreien Reiserückkehrern möglich gemacht. Was halten Sie davon?
Gar nichts. Das bindet unnötigerweise große Ressourcen bei Laboren und Ärzten. Wir brauchen unsere ganze Kraft für die Versorgung der Patienten. Deshalb brauchen wir bei den Tests für Reiserückkehrer die Unterstützung durch Fieberambulanzen oder Testzentren. Und deshalb ist es mit Blick auf die Herbstferien richtig – wie es die Landesregierung fordert –, dass symptomfreie Reiserückkehrer nicht gleich getestet werden, sondern zunächst einmal in Quarantäne gehen und erst bei Symptomen auf Corona getestet werden. Denn auch bei den Tests handelt es sich um eine begrenzte Ressource, die medizinisch sinnvoll eingesetzt werden sollte.
Das Gespräch führte Christian Kunst