Rheinland-Pfalz
Bitburg, Mainz, jetzt Brüssel: Was ist Joachim Streits Erfolgsrezept?
Bundesparteitag Freie Wähler in Bitburg
Joachim Streit
Harald Tittel. picture alliance/dpa/Harald Titt

Andere Politiker werden von ihrer Partei gepusht. Bei Joachim Streit ist es umgekehrt. Er zieht die Freien Wähler hinter sich her und macht trotzdem immer neue Karrieresprünge. Am Sonntag wurde er ins EU-Parlament gewählt. Wie schafft er das?

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Was ist Joachim Streits Geheimnis? Sein Erfolgsrezept? Das würde so mancher Politiker sicher gern wissen. Schließlich hat der Eifeler, der nun als rheinland-pfälzischer Spitzenkandidat der Freien Wähler bei der Europawahl antrat und dem der Sprung ins EU-Parlament gelang, es immer wieder geschafft, die Wähler von sich zu überzeugen, um sich auf die nächste Karrierestufe zu katapultieren. Und das ganz ohne große Partei im Hintergrund. Mehr noch: mit einer Partei, deren Motor er selbst ist. Ohne Streits Schubkraft wären die Freien Wähler nicht da, wo sie heute sind.

Als junger Wilder wurde er 1997 Bitburgs Bürgermeister, 2009 wählten die Eifeler ihn trotz ernst zu nehmender Konkurrenz mit Dreivierteln der Stimmen zum Landrat des Kreises Bitburg-Prüm. Nicht die geringste Chance hatte der CDU-Kandidat gegen diesen Lokalmatador. Und das in der einst so schwarzen der Eifel! Dann schafften Streits Freie Wähler 2021 doch noch den Sprung in den Landtag. Und nun Europa.

Bundesparteitag Freie Wähler in Bitburg
Joachim Streit mit Hubert Aiwanger, Bundesvorsitzender der Partei Freie Wähler
Harald Tittel. picture alliance/dpa/Harald Titt

Wie macht der 59-jährige Jurist das? Dem Zufall überlässt er es ganz sicher nicht. Streit gilt als schlauer Stratege, der weit im Voraus plant – und sich beraten lässt. So auch bei seinem ersten Wahlkampf, wie er einst im Interview berichtete. Damals empfahlen die Berater ihm, zunächst ausschließlich auf seine Persönlichkeit zu setzen und nicht auf Inhalte. Das verblüffte ihn zwar, doch er tat wie geheißen.

„Ökki“ mit der Woody-Allen-Brille

Groß und schlaksig, frech und unkonventionell kam „Ökki“ Streit daher, mit breitem Grinsen, lautem Lachen und einer schwarzen Woody-Allen-Brille, die ihrer Zeit weit voraus war. Mit der Fähigkeit, Menschen das Gefühl zu vermitteln, gesehen, gehört und verstanden zu werden. Und mit seiner ungewöhnlichen Redegewandtheit. Mal ganz staatstragend. Mal fürs lokale Wähler-Herz auf Eifeler Platt. Aber meist doch so, dass der Zuhörer versteht, was er hört. Die Themen sind dabei höchst unterschiedlich, auch wenn bis heute das kommunale Geschehen für Streit im Vordergrund steht.

In Bitburg ging's anfangs ums Schwimmbad, um Stadtfeste und Verkehrskreisel. Im Kreis um marode Schulen, sanierungsbedürftige Straßen, um schnelleres Internet oder Eifeler Baukultur. Und auch um den Bitburger Flugplatz, der entgegen all seiner Hoffnungen und Bemühungen nicht zum Passagier-Airport wurde – Streits wohl größter Misserfolg. In Mainz thematisierte er die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge, Kinderfreibeträge oder den Personalmangel bei der rheinland-pfälzischen Polizei. „Kommunalpolitik ist mein Leben“, hat der Eifeler dem “Trierischen Volksfreund" (TV) einst gesagt. Da erstaunt es nicht, dass sich der Major der Reserve in Brüssel nicht nur für eine gemeinsame EU-Außenpolitik und eine EU-Armee einsetzen will, für kontrollierte Zuwanderung oder günstige Industriestrompreise, sondern auch für die Kommunen, für ein Europa der Regionen oder für erneuerbare Energie, bei der sein Eifelkreis Bitburg-Prüm doch Vorreiter und Paradebeispiel ist.

Streit ist Avantgardist. Nicht nur bei den Brillen. Auch im Wahlkampf beschritt er neue, aufsehenerregende Wege. 1997 schaltete er eine Anzeige in der Zeitung: ein Stellengesuch als Bürgermeister von Bitburg. „Das war frech, vielleicht sogar ein bisschen überdreht“, fand er selbst. Unter dem Motto „Von Haus zu Haus von Mensch zu Mensch“ tourte er durch die Stadt und holte seinen Konkurrenten kurz vor der Ziellinie ein. Als er zwölf Jahre später Landrat werden wollte, suchte der 43-Jährige auf den Dörfern zwar weiter die Nähe zum Wähler, doch warb er für sich auch in den sozialen Medien. Was aus heutiger Sicht banal klingt, war damals bahnbrechend neu. Im längst wieder eingestellten Netzwerk „Wer-kennt-wen“ gründete er 2008 die Gruppe „Alle kommen mit“, die schon nach wenigen Wochen Tausende Mitglieder hatte. Die Strategie ging auf.

Das Fachliche überlässt er anderen

Warum also sollte man sie groß ändern? Auch 2024 scheint Streit auf Bewährtes zu setzen: auf seine Persönlichkeit, auf Facebook, auf den Rückhalt seiner Frau und seiner Kinder und den direkten zwischenmenschlichen Kontakt. „Er ist eine gute Repräsentationsfigur und ein guter Redner“, sagt ein landespolitischer Beobachter. Das Inhaltliche und Fachliche überlasse Streit aber eher anderen.

„Er muss geklont sein“, konstatiert ein weiterer Beobachter. Denn auch im Europa-Wahlkampf baute Streit weiter auf seine Eifel, wo er trotz der vielen Fernsehinterviews, Podiumsdiskussionen oder auswärtiger Wahlkampfauftritte mit Hubert Aiwanger zuletzt ein erstaunliches Pensum an Terminen abklapperte: von der Wurstmanufaktur in die Kyllburger Stiftskirche, vom Kappellenfest zur Mallorca-Party, vom Jahreskonzert des MV Rodershausen zur Eröffnung des Bierhauses. Und auf dem Bitburger Fußballplatz war er natürlich auch.

Und was sagt er selbst, wenn man in den Tagen vor der Wahl fragt, was ihn im Innersten antreibt? Er antwortet: „Der Wille, die Welt zu verändern, sodass sie auch meinen Kindern gefällt.“ Einfach machen! Und was würde er sagen, ist sein Weg zum Erfolg? „Ich liebe die Menschen“, antwortet er. Wer das nicht tue, solle sich von der Politik fernhalten. Auch das Zuhören, Fleiß und die Liebe seiner Familie nennt er. Dazu Humor und die Fähigkeit „locker im Sattel des Lebens zu sitzen“.

Eitel – und der Eifel verbunden

Kritiker werfen ihm allerdings vor, sich zu sehr um seine Karriere zu kümmern, eitel nach Anerkennung zu streben und die eigentliche politische Arbeit – die zuletzt wenig Gestaltungsspielraum bot, da sie aus Opposition bestand – darüber zu vernachlässigen. Manch einen in Mainz störte wohl auch, dass Streit sich weiter so viel in der Eifel herumtreibt.

Denn seiner Eifel bleibt der Bitburger auch dann noch treu, wenn er nach Europa will. In der Eifel strahlt Streit. Dort findet man den am schnellsten wachsende Kreisverband der Freien Wähler in Deutschland. Dort stieg die Zahl der Parteimitglieder in nur anderthalb Jahren von 22 auf rund 300 Mitglieder an.

Und doch zieht es ihn rastlos hinfort. Nach Mainz, nach Brüssel, nach Berlin? Immer weiter, immer weiter? Still stehen? Nichts für „Ökki“, das zeigt die Biografie. Und das teilte er dem TV auch persönlich mit. Nur 132 Tage, nachdem er 1997 Bitburgs jüngster Bürgermeister geworden war, sagte er: „Ich fühle mich wohl in meinem Job und gehe darin auf. Nach innen strahle ich, ich glühe sogar, ich habe den Drang, was zu machen. Und immer, wenn ich was erreicht habe, suche ich schon nach dem nächsten, das war schon immer so.“ Mag sein gelocktes Haar nun auch länger und grauer sein und die Goldrand-Brille dezenter als das dicke schwarze Ding von damals – manches ändert sich offensichtlich nicht.

Zur Person

Joachim Streit (Jahrgang 1965) ist in Trier geboren und in Beilingen aufgewachsen. Er verbrachte seine Jugend in Bitburg und machte Abitur in Neuerburg, studierte in Trier Jura. Titel seiner Dissertation: „Die Nichtigkeit, Sittenwidrigkeit und Aufhebbarkeit von Bierlieferungsverträgen unter Berücksichtigung des deutschen und europäischen Kartellrechts“. Der promovierte Jurist arbeitete einige Jahre selbstständig als Repetitor und bereitete Jurastudenten auf ihr Staatsexamen vor, bevor er 1996 als 31-Jähriger mit 58 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister der Stadt Bitburg gewählt wurde. Im Dezember 2009 wurde er mit einer überragenden Mehrheit von 74 Prozent zum Landrat des Eifelkreises Bitburg-Prüm Bei der Wiederwahl 2017 bekam er 88 Prozent.

2021 gelang den Freien Wählern (FW) der Sprung in den Landtag, wo Streit seitdem Fraktionsvorsitzender ist. 2024 dann die Kandidatur fürs EU-Parlament – auf Platz 1 der Landes- und Platz 3 der Bundesliste. Am späten Sonntagabend konnte die FW-Bundesvereinigung dann verkünden: Die Partei konnte bei der Wahl zum Europäischen Parlament erneut ihr Wahlergebnis steigern und ist zukünftig mit drei Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten. Neben der Spitzenkandidatin Christine Singer und dem amtierenden Europaabgeordneten Engin Eroglu zieht auch Joachim Streit in das Europaparlament ein.

Mit seiner Frau Petra hat Streit drei Kinder: Stella, Jakob und Paul. red

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