Rheinland-Pfalz
Aufarbeitung der Flutkatastrophe: Koblenzer Anwalt hat Befangenheitsantrag gegen Ahrtal-Gutachter eingereicht
Sitzung Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal
Der Sachverständige Dominic Gißler von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften nach seiner Aussage im Flut-Untersuchungsausschuss.
picture alliance/dpa/Boris Roessler. picture alliance/dpa/Boris Roess

Der Koblenzer Rechtsanwalt Christian Hecken hat einen Befangenheitsantrag gegen den Berliner Gutachter Dominic Gißler eingereicht, der Ende November im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe ausgesagt hatte. Was sind seine Beweggründe? Darüber hat unsere Zeitung mit dem Juristen gesprochen.

Nach der Flutkatastrophe an der Ahr
Kerzen erinnern auf den Grundmauern eines Hauses an die Opfer der Flutkatastrophe im Ahrtal im Juni 2021. Hätten mehr Leben gerettet werden können? Diese Frage treibt nicht nur viele Angehörige schmerzvoll weiter um.
picture alliance/dpa/Thomas Frey

Wird es mit Blick auf die Flutkatastrophe im Ahrtal zur Anklageerhebung kommen? Diese Frage kann laut dem Leitenden Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler nicht mehr vor Weihnachten entschieden werden. Mit einer Abschlussentscheidung sei frühestens im Januar zu rechnen, hieß es vonseiten der Koblenzer Staatsanwaltschaft Ende November. Welche Rolle spielt dabei das von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachten des Berliner Katastrophenschutzexperten Dominic Gißler? Wie aussagekräftig ist es? Ein potenzieller Nebenklagevertreter äußert bereits Zweifel.

In einer Pressemitteilung erklärte die ermittelnde Behörde den Zeitplan damit, dass sie eine mögliche Stellungnahme eines Nebenklagevertreters sowie das Protokoll der vergangenen Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses erwarte. Am 27. November hatte dort Dominic Gißler ausgesagt und sein für die Koblenzer Staatsanwaltschaft gefertigtes Sachverständigengutachten vorgestellt.

Jurist fordert zweiten Gutachter

Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal
Jürgen Pföhler (CDU), ehemaliger Landrat des Kreises Ahrweiler
Arne Dedert. picture alliance/dpa/Arne Dedert

Fakt ist, dass der Koblenzer Rechtsanwalt Christian Hecken, der im Falle einer Anklageerhebung drei Nebenkläger im Prozess vertreten würde – Familien, die Angehörige in der Flutnacht verloren haben -, einen Befangenheitsantrag gegen Gißler eingereicht hat. Der Jurist fordert, dass dringend ein zweiter Gutachter hinzuzuziehen sei. Unsere Zeitung hat mit Hecken gesprochen.

Rückblick: Bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft geht es bekanntlich um die Frage, ob gegen die beiden Zuständigen für den Katastrophenschutz im Kreis Ahrweiler – den früheren Landrat Jürgen Pföhler (CDU) sowie den damaligen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur des Kreises – Anklage erhoben werden muss. Ermittelt wird gegen beide wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung sowie fahrlässige Körperverletzung im Amt.

Folgende Hauptfrage steht im Raum: Hätten Pföhler und das Mitglied der Technischen Einsatzleitung mehr tun können, um Todesfälle in der Nacht zu verhindern? Dem sollte der Berliner Katastrophenschutzexperte Dominic Gißler in Form seines Gutachtens auf den Grund gehen.

Gutachter: Führungssystem im Kreis „funktionell und strukturell unterkomplex“

Der Berliner Professor für Führung und Bevölkerungsschutz hatte im Untersuchungsausschuss dem Kreis Ahrweiler erhebliche Mängel im Katastrophenschutz bescheinigt. Der Gutachter sagte bei seinem zweiten Besuch am 27. November, „dass man Menschen hätte retten können, es gab die Chance“. Man könne allerdings nicht sagen, mit welcher Erfolgsaussicht.

Gißler bezeichnete das Führungssystem des Kreises Ahrweiler als „funktionell und strukturell unterkomplex“. Es habe in entscheidenden Zeitabschnitten keine ausreichenden Führungsleistungen erbracht. Die Stellen in der Kreisverwaltung für den Katastrophenschutz seien zu gering gewesen, in der Flutnacht hätte an ausschlaggebender Stelle Personal gefehlt. Außerdem seien grundlegende Dinge nicht geregelt gewesen, so der Gutachter.

Der 34-Jährige erklärte aber auch, dass die Gesamtumstände – Stichwort „Maximalereignis“ – zu berücksichtigen und zu würdigen seien. Und: Er wolle keine Schuldzuweisung aussprechen, sein Gutachten sei keine juristische Arbeit. Genaue Zahlen, wie viele Menschen hätten gerettet werden können, wollte Gißler ebenfalls nicht nennen.

„Nicht nachvollziehbar und widersprüchlich“

An Gißlers Gutachten lässt der Koblenzer Rechtsanwalt Christian Hecken im Gespräch mit unserer Zeitung kein gutes Haar. Es sei „in zentralen Teilen nicht nachvollziehbar und widersprüchlich“. Für einen Befangenheitsantrag gegen Dominic Gißler als Gutachter gebe es nach Art und Häufigkeit der Fehler gleich mehrere Argumente, sagt Hecken – und geht ins Detail.

Sitzung Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal
Der Sachverständige Dominic Gißler von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften nach seiner Aussage im Flut-Untersuchungsausschuss.
picture alliance/dpa/Boris Roessler. picture alliance/dpa/Boris Roess

Die Staatsanwaltschaft, so der Jurist, habe Gißler unter anderem gebeten, zu ermitteln, mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit konkrete Schadensereignisse hätten vermieden werden können. Dabei habe es laut Hecken die Vorgabe von der Staatsanwaltschaft gegeben, dass die Wahrscheinlichkeitsprognose insbesondere vor dem Hintergrund der Außergewöhnlichkeit des Ereignisses zu begründen sei.

„Der Gutachter durfte einen so formulierten Gutachtenauftrag gar nicht annehmen“

Hecken kommentiert dies im Gespräch mit unserer Zeitung so: „Der Gutachtenauftrag wurde meines Erachtens unrichtig eingeengt und ergebnisorientiert formuliert, sodass der Gutachter auf der Grundlage dieser Annahme gar kein Gutachten hätte erstatten dürfen. Der Gutachter durfte einen so formulierten Gutachtenauftrag gar nicht annehmen.“

Hecken begründet diese These unter anderem mit einem Verweis auf eine Untersuchung des Karlsruher Instituts für Technologie. Aus dieser sei bereits kurz nach der Flut im Ahrtal hervorgegangen, dass die Hochwasser in den Jahren 1804 und 1910 in ihren Dimensionen mit der Flutkatastrophe 2021 vergleichbar seien.

Hecken: „Historisch betrachtet dürfte es unter den Experten unstreitig sein, dass es sich bei der Juli-Flut im Jahre 2021 um kein nicht vorhersehbares, völlig außergewöhnliches Ereignis gehandelt hat.“ Das Gegenteil werde aber in dem Gutachtenauftrag zugrunde gelegt, den der Gutachter ohne Protest angenommen habe, kritisiert Hecken. „Die Katastrophenschutzbehörden haben zudem schon immer aus der Definition heraus Extremereignisse in den Blick zu nehmen, weswegen der einschränkende und vom Gutachter verfolgte Gutachtenauftrag nicht objektiv und verfehlt ist“, führt der Jurist weiter aus. Nach Heckens Überzeugung widerspreche die Feststellung im Gutachtenauftrag zudem eindeutig dem „Rahmenalarm- und Einsatzplan Hochwasser“ des Landes Rheinland-Pfalz.

Hatte Gißler ausreichend Zeit für sein Gutachten?

Hecken bemängelt ferner, dass die Zeit, die Gißler für die Anfertigung des Gutachtens zur Verfügung stand, nicht ausgereicht habe, um ein „vernünftiges Gutachten“, so Heckens Worte, zu erstatten. Weiterhin sei festzustellen, dass sich der von der Staatsanwaltschaft eingesetzte Gutachter mit zentralen Fragen – zum Beispiel zur Bundeswehr als wichtige Hilfe bei den einzuleitenden Evakuierungsmaßnahmen – nicht auseinandergesetzt habe. Gißler habe zudem ein zentrales Beweismittel – ein Video, das die völlige Überflutung im Bereich der Ahr zeige – gar nicht gekannt.

Dies war auch bei Gißlers mehr als viereinhalbstündigen Befragung im Untersuchungsausschuss deutlich geworden. Hecken: „Der Experte bezieht damit auch nicht ein, dass Evakuierungen zu den unverzichtbaren Handlungsalternativen der Katastrophenschutzbehörden gehören und sowohl planerisch vorbereitet als auch bei Extremfluten bei der Bewertung der notwendigen Maßnahmen der Einsatzleitung einbezogen werden müssen.“

„Totalversagen in einer Katastrophensituation“

Gißlers „Befangenheit“ folge laut Hecken in der Gesamtschau auch „aus der nicht nachvollziehbaren Ablehnung eines Simulationsmodells, mit dem Entscheidungen im Krisenstab nachgebildet und mit dem mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folgen hätten abgeschätzt werden können“, sagt der Jurist.

Gißler hatte im U-Ausschuss erklärt, dass die Koblenzer Staatsanwaltschaft Mittel für eine solche Computersimulation ermöglicht hätte. Er habe sich allerdings gegen eine solche Simulation entschieden, weil sie aus seiner Sicht zu keiner genaueren Aussage geführt hätte, so Gißler. Hecken kritisiert zudem: Es sei „nicht nachvollziehbar, wieso ab 22.45 Uhr eine erfolgversprechende Evakuierung nicht mehr möglich gewesen sein soll, wenn erst nach 2 Uhr die maßgeblichen Fluten am Ende der Ahr in der Behinderteneinrichtung in Sinzig eintrafen“.

Verantwortungsträger seien laut Hecken inzwischen „in der Versenkung“ verschwunden, was „moralisch verwerflich“ sei. Es gehe nun darum, „in der Öffentlichkeit Verantwortung zu übernehmen und die Verantwortungsbeiträge in der Flutnacht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern konkret zu bekennen“, resümiert der Anwalt.

Jurist fordert, Frank Roselieb als zweiten Gutachter hinzuzuziehen

Hecken bringt nun die Hinzuziehung eines alternativen Experten für ein Gutachten ins Spiel: „Wir schlagen Herrn Frank Roselieb als alternativen Experten vor. Frank Roselieb ist ein sehr erfahrener Krisen- und Katastrophenforscher, der perfekte Ansätze zur weitergehenden Begutachtung liefert und über Erfahrungen verfügt, die den Erfahrungsschatz des 34-jährigen, von der Staatsanwaltschaft eingesetzten Gutachters Gißler übersteigen“, behauptet Hecken. Roselieb habe auch bereits angekündigt, ein Simulationsmodell liefern zu können, das konkrete, wissenschaftlich fundierte Aussagen zur Rettung von Menschenleben bei rechtlich gebotenem Handeln treffen könne.

Krisenforscher Frank Roselieb
Krisenforscher Frank Roselieb.
picture alliance/dpa/Carsten Rehder. picture alliance/dpa/Carsten Reh

Die Fraktion der Freien Wähler kündigte derweil am Montag an, bei der nächsten Beratungssitzung des Untersuchungsausschusses am Mittwoch einen neuen Beweisantrag zu stellen – und den Krisenforscher in den Ausschuss zu laden. Die nächste Sitzung wäre dann voraussichtlich im Januar.

 

Hinweis der Redaktion: Aufgrund neuer Informationen zu Details der Flutnacht wurde ein Absatz des Artikels entfernt.

Top-News aus der Region